Das Festmahl des John Saturnall
John eindringlich an.
»Ich kenne sie seit ihrer Geburt«, sagte die Wirtschafterin. »Sie würde auf der Stelle mit Euch gehen. Wenn sie es könnte.«
Die Wirtschafterin ließ ihre letzten Worte nachwirken. Dann ergriff sie die Armlehnen des Sessels und richtete sich auf. »Master Saturnall, habt nun die Güte, diese Fremde hinauszugeleiten ...«
Zahllose Fragen erwarteten ihn am nächsten Tag in der Küche und zahllose weitere am Tag darauf. Doch so viele Aufgaben sich in seinem Geist drängen mochten, seine Gedanken kehrten dennoch immer wieder zu Mistress Gardiners Worten zurück.
Sie würde auf der Stelle mit Euch gehen. Ermunterung oder Warnung? Wenn sie es könnte ...
»Es sind nur noch drei Tage bis zum Festmahl«, sagte Philip am nächsten Tag zu John. »Kannst du bitte einen Gedanken darauf verschwenden?«
»Die Fleischfüllungen«, sagte John prompt. »Zähl sie noch einmal auf.«
Philip schüttelte den Kopf. »Was hast du vor, John?«, fragte er ruhig.
»Ich bin ihr Koch«, sagte John. »Ich habe ihr ein Hochzeitsmahl versprochen.«
Doch am selben Abend verlangte Gemma ihn zu sprechen.
»Sie hat mich geschickt«, sagte die junge Frau leise. »Sie will mit dir sprechen.«
Aus dem Haus sickerte gedämpfter Lärm in die Stille des Abends. Gemmas Stiefelabsätze klapperten leise auf dem Weg, der an der Mauer des Ostgarten vorbeiführte. John hörte dröhnendes Gelächter. Piers’ Kumpane, dachte er. Oder nur das Ende der Nachtmahlzeit. Vor ihm ragten die Kastanienbäume auf. Und zwischen ihnen wurde die Kapelle sichtbar, deren Turm wie ein großer steinerner Finger zum Himmel deutete. John fühlte sich auf einmal an einen anderen Wald erinnert.
»Sie wartet drinnen«, sagte Gemma. »Warum, wollte sie mir nicht sagen. Sie hat die ganze Woche fast kein Wort gesagt.« Gemma zögerte. »Sie ist nicht sie selbst, John.«
Die Tür der Kapelle war nicht verschlossen. Johns Schritte hallten auf den Steinfliesen. Am Ende des Kirchenschiffs stand die Tür zum Turm offen.
Gipsbrocken bedeckten die Stufen. Marpots Hammer, erinnerte sich John. Hierhin hatte Marpot Lucretia gezerrt. Und dann sein rätselhafter Rückzug. Oben sah John ein flackerndes Licht.
Sie würde auf der Stelle mit Euch gehen ...
Gipssplitter knirschten unter seinen Füßen. Die Vorstellung, dass sie ihn erwartete, verdrängte alles andere aus seinen Gedanken. Sie konnte Piers ihr Jawort nicht geben. Nicht die Lucretia, die er kannte. Und dann trat er in die kühle Nachtluft.
Marpot hatte ganze Arbeit geleistet. Selbst hier oben bedeckte abgeschlagener Gips den Boden. Die Grabstätte sah aus wie ein Thron. Eine alte Steinskulptur saß dort und sah mit ihrem verwitterten Gesicht auf das Tal hinaus. Doch was Johns Blick fesselte, waren die Wände, von
Lampen beleuchtet, die auf dem Boden standen. Mosaiken in steinernen Einfassungen. John betrachtete das erste Mosaik, das Wälder und Obstgärten darstellte. Dazwischen schlängelte sich ein vertrauter Fluss.
Es war das Tal. Aber von Belliccas Palast aus gesehen. John kauerte sich nieder und fuhr mit dem Finger die Abhänge entlang, an denen er sein Abc gelernt hatte. Wie kam dieses Bild hierher? Wer hatte aus den Fenstern von Belliccas Palast gesehen? Er blickte sich um, und seine Augen erfassten das verwitterte Antlitz aus Stein.
»Du kennst ihn auch, John. Du hast ihn immer gekannt.«
Lucretias Stimme ließ ihn zusammenfahren. Die junge Frau trat aus dem Schatten. Selbst in dem schwachen Licht sah ihr Gesicht fremd aus. Sie hatte sich die Wangen gepudert, fiel John auf. Ihre Lippen waren mit Rouge gefärbt. Schweres Parfum wehte von ihr her, als sie auf die Landschaft des Wandmosaiks blickte. Dann sprach sie mit tonloser Stimme.
»Er hieß Coldcloak. Er kam her, als die Römer abzogen. Er beging das Fest mit Bellicca. Mit ihnen allen. Aber er hat sie verraten.«
John starrte sie an, während seine Gedanken sich überschlugen. Das Grabmal. Die Bilder an den Wänden. Der erste Fremantle mit dem Blick über das Tal.
»Er?« John sah zwischen der jungen Frau und dem alten Steinbildnis hin und her. »Dein Vorfahre war Coldcloak?«
Statt zu antworten, deutete Lucretia auf das nächste Wandbild, auf dem große Terrassen in Stufen zu säuberlich angelegten Obstgärten führten. Belliccas Gärten, erkannte John. Mittendrin erhob sich ein Palast mit riesigem Herd und hohen Bogenfenstern. Männer und Frauen saßen dichtgedrängt an den Tischen. Doch eine furchterregende Gestalt
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