Das Festmahl des John Saturnall
ihn sehen konnte. Nicht einmal seine Mutter.
Der Geruch des Feuers führte ihn zurück. Der Schornstein überragte die kahlen Äste. Doch es war kein Rauch zu sehen. Der abendliche Holzvorrat war offenbar aufgebraucht. Seine zornigen Worte kamen ihm in Erinnerung und die Antworten seiner Mutter. Die Antworten, vor denen er weggelaufen war. Es gebe noch mehr zu lernen, hatte sie gesagt. Sie müsse ihm noch mehr sagen. Sie würde es ihm nun erklären, dachte er sich. Er würde gehorsam nicken. Er schob den Efeu zur Seite.
Seine Mutter lag an ihrem üblichen Platz, in ihren Umhang gehüllt und der Rückwand der Feuerstelle zugekehrt, die langen schwarzen Haare hingen ihr über den Rücken. Ihr Zittern hatte sich gelegt, sah er.
»Ich bin wieder da«, sagte John.
In der Leere ringsum klang seine Stimme auffallend laut. Doch seine Mutter antwortete nicht. Er rieb seine Arme, um sich zu wärmen. Der alte Ruß des Herds roch anders als sonst, fiel ihm auf.
»Ich hab gesagt, ich bin wieder da«, wiederholte er.
Seine Mutter regte sich noch immer nicht. Ein Windstoß wirbelte ein kleines Aschegestöber vom erloschenen Feuer auf. Mitten in der Asche lag ein schwarzer Block. John runzelte die Stirn und trat vor.
Die geschwärzten Seiten des Buchs hingen noch in dem verkohlten Einband. Während John hinsah und sich fragte, wie es dazu gekommen sein mochte, mischte sich ein anderer Geruch in den des Rußes. Nicht der Geruch der verkohlten Seiten. Etwas Feuchtes und Nasskaltes. In seinem Magen regte sich leises Unwohlsein.
»Ma?«
Er erinnerte sich an ihre Stimme am Vorabend. An seinen zornigen Trotz ... Er würde ihr das ganze Buch vorlesen, nahm er sich vor. Ihr einen ganzen Sack voller Paradiesbrot backen. Nie wieder ein böses Wort sagen.
»Wir werden das Fest begehen, Ma«, versprach er. »Wie du es wolltest.«
Sie konnten das Buch neu schreiben, dachte er. Er wusste jedes Gericht auswendig. Sie würde im nächsten Augenblick aufstehen. Sie würde seinen Zornesausbruch mit einem Kopfschütteln quittieren. Er würde mit der Sammeltasche auf die Suche nach dem täglichen Abendessen gehen. Seine Schritte knirschten auf dem gefrorenen Boden, als er weiterging. Er kniete sich neben sie. Doch als er ihr Haar aus der Asche hob, fiel der Kopf seiner Mutter zurück. Glasige Augen starrten ihn an.
John verschlug es den Atem. Da war der Geruch feuchter Leichentücher, die sein Gesicht umfingen. Ringsum schien sich das Licht in den Wäldern zu verändern, als wäre ein Schatten darüber hinweggeglitten.
Wir werden das Fest begehen ...
Sie hatte offenbar auf seine Rückkehr gewartet. Hatte hier gelegen und gehustet. Er bückte sich und berührte ihren kalten Arm. Er ergriff ihre Hand und erinnerte sich, wie sie seinen Kopf gestreichelt, ihn mit den Fingern gekämmt hatte. Daran, wie die Beule an seinem Kopf ihn hatte zurückzucken lassen. Er sah zu den stillen Bäumen und zu den geborstenen Mauern. Ein kalter Luftzug fuhr durch die dunklen Baumstämme und umschloss John mit seiner Kälte. Doch die Kohle in seinem Inneren glühte mit ungeminderter Hitze. Sein Zorn würde nie von ihm weichen, das wusste er. Die leblosen Finger seiner Mutter entglitten seiner Hand. Er sah noch einmal in ihre blicklosen Augen. Nun würde er keines seiner Versprechen halten.
Dann wogte seine schmale Brust. Dass niemand ihn hören würde, wusste er, als das erste bittere Schluchzen in seiner Kehle aufstieg. Niemand würde kommen. Allein in der Tiefe von Bucclas Wäldern überließ sich John seinem Kummer.
»Saturnall?«, wiederholte Ben verblüfft. »Was für ein Name soll das sein?«
»Seiner«, sagte Josh. »Hat er gesagt.« Der Treiber hatte Ben Martins langes Gesicht noch nie so lebhaft gesehen wie in diesem Augenblick, als Ben den Jungen mit einem empörten Blick maß.
»Nachdem ich mir den Mund fransig geredet habe! Da geht er hin und sagt es dir!«
John sah zwischen den zwei Männern hin und her, der eine gekränkt, der andere ein Grinsen mühsam verbergend.
Er hatte nicht absichtlich geschwiegen. Und ebensowenig hatte er beschlossen zu sprechen. Als er den Mund aufmachte, hatte er sich daran erinnert, wie Josh und Ben Wärme in seine Glieder massiert hatten und wie der Lebensimpuls sich in seinen tauben Armen und Beinen schmerzlich bemerkbar gemacht hatte. Als taute etwas Gefrorenes in seinem Inneren.
Es hatte drei Tage gedauert, ein Loch in den gefrorenen Boden zu
scharren. Einen weiteren Tag, die Steine zu sammeln. Er hatte
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