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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Norfolk
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Wir begehen es für sie alle ...
    Tagsüber übertönte das Geklapper der Näpfe ihre Worte, doch jede Nacht, nachdem er und Philip es sich auf ihrem Strohsack bequem gemacht hatten, kehrte er zu den stillen Bäumen zurück. Und dort wartete seine Mutter auf ihn.
    Sie hatte ihn zu dem Gutshaus geschickt, erinnerte er sich. Warum lockte sie ihn jede Nacht in Bucclas Wald zurück? Und immer noch hörte er ihre Stimme, die ihn rief. Was hatte sie ihm an jenem Abend noch sagen wollen? Wenn er wach war, quälte ihn diese Frage und lenkte seine Gedanken wieder zu Scovell. Wie Scovell seinen Blick abgewendet hatte, als John sagte, dass sie tot war.
    Aber auch Scovell war ein Rätsel. Seit Johns erstem Tag in der Küche hatte er nie wieder das Wort an ihn gerichtet. Manchmal war es, als erfüllte der Meisterkoch den ganzen Raum mit seiner Gegenwart. Zu anderen Zeiten schwebte er wie ein Gespenst durch die Räume. Seine Gemächer erstreckten sich unter dem ganzen Haus, behaupteten die anderen Jungen. Dort unten, hieß es, bereite er sonderbar riechende Gerichte zu. Er spreche Sprachen, die niemand verstehen könne.

    »Also wie Roos«, mutmaßte Phineas Campin eines Abends.
    »Nein, der spricht Flämisch«, sagte Adam Lockyer entschieden. »Der Name Scovell ist nicht flämisch ...«
    »Und was dann?«, fragte John.
    Keiner der Küchenjungen hätte sagen können, woher der Meisterkoch stammte.
    »Ich hab gesehen, wie er dich beobachtet hat«, vertraute Phineas John später an. »An dem Tag, als du herkamst. Als du Vanian gesagt hast, was in der Brühe war. Ich kam von der Vorbereitungsbrigade rüber, und er hat dich beobachtet. Hat sich im Schatten versteckt gehalten.«
     
    Johns Haare wuchsen, schwarz und lockig wie zuvor. Er setzte Fleisch an. Die Spuren seines Kampfs mit Coake waren kaum mehr zu sehen. Er fröstelte nicht mehr ganze Nächte hindurch und erwachte morgens nicht mehr mit dem alten nagenden Hunger. Er schlang das Essen nicht mehr wie ein hungriger Wolf in sich hinein. Die Arbeit in der Spülküche wurde zur Routine.
    Die Sonntage erlaubten eine längere Ruhepause, wenn Frühstück und Abendmahlzeit von Schneidebrettern verzehrt wurden und die Kanten harten Brots entweder in hungrigen Mündern verschwanden oder in die Almosenbüchse gesteckt wurden. Danach nahmen die Jungen reihenweise Aufstellung, bekamen Mützen verpasst und wurden aus der Küche hinausgeführt. Philip und John gingen mit den anderen in Zweierreihen durch den Gang in das helle Sonnenlicht hinaus.
    »Das ist Roderick Tichborn«, sagte Philip mit einer Kopfbewegung. »Er arbeitet unter Henry Palewick. Und Morris Appleton dort drüben auch. Die zwei Weißköpfe sind Jim und Jem Gingell. Tun nix als jammern und klagen. Der Kleine bei ihnen ist Wendell Turpin. Ist zusammen mit Diggory Wing für den Taubenschlag zuständig. Gervase, der neben ihm, arbeitet in der Molkerei. Die zwei anderen da drüben sind Philpot und Dymion. Adam Lockyer und Alf kennst du ja. Und Peter Pears und Phineas Campin. Sieh mal, da vorne sind Meg und Ginny. Ginny winkt dir zu ...«

    John nickte. Die anderen Jungen waren nun seine Familie. Verwirrt durch die Vielzahl von Namen und Gesichtern, sah er die von Rasenflächen gesäumte Auffahrt entlang. Jenseits des getrimmten Rasens führte abfallendes Weideland zu einem kleinen Tor, und dahinter erstreckten sich Wiesen, an deren Ende das Sonnenlicht im Wasser einer Reihe von Teichen um eine große Eiche herum glitzerte. Dort stand eine seltsame Gestalt.
    Ein hochgewachsener Junge mit Haaren wie ein Heubüschel stolzierte um den größten der Teiche, mit merkwürdigen Pausen nach jedem Schritt. Als John ihn beobachtete, blieb er stehen und breitete die Arme aus, an denen lange Stangen befestigt waren; von diesen Stangen hingen Säcke, die der Junge wie ein Paar riesengroße zerfetzte Flügel zum Flattern brachte. Eine herbeifliegende Taube drehte wieder ab.
    »Wer ist das denn?«
    »Der Reiherjunge«, sagte Philip, der hinter John stand. »Er sagt nie ein Wort.«
    Die Gestalt ließ ihre Flügel sinken. John dachte an sein eigenes Schweigen auf dem Weg durch das Tal. Er starrte die zerlumpte Gestalt an, doch in diesem Augenblick setzte die Reihe der Küchenjungen sich wieder in Bewegung. Der Reiherjunge schritt weiter um den Teich.
    Sie gingen an der Treppe vorbei, die zum Eingangssaal führte, unter dem Portikus mit seinen steinernen Fackeln hindurch und den Weg entlang. An der Mauer des Ostgartens blickte John zu den hohen

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