Das Feuer bringt den Tod: Thriller (German Edition)
Stimme. Die Warnungen und Aufforderungen – »Vergiss es!«, »Mach dir darüber keine Gedanken!«, »Man sollte wissen, wenn man sich übernimmt.«, »Manchmal ist es besser, so zu tun, als wäre nie etwas gewesen.« – kamen von ihrem Onkel Frieder. Wie wenn sein Geist in Bernds Körper eingefahren wäre. Ihr Vater hingegen wiederholte immer wieder die gleichen Sätze, wie ein zischendes Mantra: »Ich muss es tun. Ich habe keine Wahl.« Irgendwann stellte Katja fest, dass ihr kalte Tropfen auf die nackten Zehen fielen. Sie schaute an sich herunter. Sie hielt eine von Nägeln durchbohrte Amsel in den Händen. Dann flatterte der Vogel plötzlich auf, seine blutverschmierten Schwingen streiften ihr Gesicht, und sie erwachte.
Träume. Und da behaupteten manche Leute, das wache Leben wäre furchteinflößend, kompliziert und undurchsichtig.
An der Zufahrt zu Lüdersens Hof bog Katja von der Landstraße ab. Mehr noch als bei ihrem letzten Besuch wusste sie nicht, was sie von ihrem anstehenden Besuch bei Lüdersen erwarten sollte. Sie würde ihm die Liste zeigen, die Bernd von den ehemaligen Besatzungsmitgliedern der »Fritz Straßmann« angefertigt hatte. Und dann? Würde Lüdersen sofort auf einen der Namen tippen, um so etwas zu sagen wie »Das ist der Mörder«? Sehr realistisch. Überhaupt war völlig ungewiss, wie der Mann den Brand auf seiner Kuhweide verkraftet hatte. Was, wenn er noch viel zu aufgebracht war und sich nur über den Feuerteufel auslassen wollte, anstatt ihre Fragen zu beantworten? Oder wenn er dabeiwar, irgendeines der sonderbaren Rituale seines Glaubens vorzubereiten, mit dem er dem Täter die Pest an den Hals wünschte?
Als sie den Jaguar vor dem rankenüberwucherten Haupthaus des Hofes parkte, hatte Katja einen Einfall für einen guten Einstieg in das Gespräch mit Lüdersen. Sie würde ihn fragen, wie es seinen Kühen ging. Das würde zumindest eine gewisse Anteilnahme an seinem Unglück demonstrieren.
Sie stieg aus und läutete die Glocke, die Lüdersen als Ersatz für eine elektrische Klingel diente. Niemand öffnete. Sie läutete noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis. Sie sah hinüber zur Schwitzhütte. War Lüdersen dort? Nein, das konnte nicht sein. Er hätte die Glocke gehört. Außerdem war der Ledervorhang vor dem Hütteneingang aufgerollt. Sie läutete ein drittes Mal. Die Ziegen aus dem Gehege um den alten Baum herum antworteten ihr mit einem sonderbaren Meckern. Es klang … erleichtert? So wenig, wie sie ihren Ohren traute, traute Katja ihren Augen, als die gesamte kleine Herde auf flinken Hufen zu ihr herantrippelte: sowohl die Muttertiere mit ihren geschwollenen Eutern, die zwischen ihren Hinterläufen hin und her schwangen wie groteske Pendel, als auch die niedlichen Zicklein, deren Fell herrlich weich aussah. Die Ziegen bedrängten Katja mit weiterem Gemecker und fordernden Stößen mit Gehörn und Stirn gegen ihre Oberschenkel.
»Hey, hey, hey, nicht so ruppig!« Um die unerwarteten Zuneigungsbekundungen des Viehs nicht mit allzu vielen blauen Flecken zu bezahlen, griff sie zu sanfter Gewalt. Sie schubste und schob die Ziegen beiseite, die ihr erst einige Schritte nachliefen und dann wie angewurzelt stehen blieben, als sie verstanden, wohin Katja wollte.
Sie ging auf den Baum zu und erkannte, dass das Gatter zum Gehege nicht richtig geschlossen war. Das erklärte immerhin, wie die Ziegen in die Freiheit gelangt waren, aber noch lange nicht ihr Verhalten. Katja war zwar ein Großstadtkind,doch es kam ihr schon spanisch vor, dass die Ziegen erst von ihrer Fluchtmöglichkeit Gebrauch gemacht hatten, nachdem eine Fremde auf dem Hof erschienen war. Eine Fremde, auf die sie dennoch zugestürmt waren, als würden sie sich von ihr irgendeine Form von Unterstützung versprechen. Futter? Dass sie gemolken wurden? Etwas völlig anderes, was nur für Ziegenhirne irgendeinen Sinn ergab?
Katja wollte den Baum umrunden, vorsichtig darauf bedacht, nicht auf zu viel Kötel zu treten, und dann erging es ihr plötzlich, wie es eben noch den Ziegen ergangen war. Sie erstarrte und konnte sich keinen Zentimeter mehr rühren.
Von einem der unteren Äste, die stark genug waren, die Last eines menschlichen Körpers zu tragen, baumelte der nackte Leichnam von Thies Lüdersen, die Zehenspitzen kaum mehr als einen halben Meter über dem Boden. Unter den Achseln waren dünne Lederriemen hindurchgewunden, die tief in die Haut schnitten. Der Tote hatte den Kopf in den Nacken gelegt, als schaute er
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