Das Feuer bringt den Tod: Thriller (German Edition)
durch das Geäst in den Himmel hinauf. Aus einem Auge nur, denn sein rechtes fehlte. An seiner Stelle war nur noch die Höhle, in die das Lid hineingesunken war. Von der Brust abwärts war seine gesamte linke Körperhälfte mit Blut verkrustet, das aus einem grinsenden Schnitt unterhalb des Rippenbogens stammte. Nur ein etwas dunklerer Fleck in der braunen Erde zu seinen Füßen verriet, wo das vergossene Blut versickert war. Daneben lag eine silbrige Klinge – unten breit und oben an zwei Seiten geschärft spitz zulaufend –, deren Griff ein kurzer, hölzerner Schaft war. Unter einer dünnen Schicht von Rotbraun war eine Rune auszumachen, die in Schwarz in die Klinge eingeätzt war. Das verfluchte Zeichen, das eben kein gewöhnliches R darstellte. Das Symbol Forsetis. Doch welches Recht war hier gesprochen worden? Welchem Gesetz hatte man Geltung verschafft?
Langsam wurde Katja in die Lage zurückversetzt, einen klaren Gedanken zu fassen, ohne dass ihre Lähmung vonihr abgefallen wäre. Eine panische Stimme in ihr, die kaum gegen das Hämmern ihres Herzens ankam, wollte ihr einflüstern, sie trüge die Schuld an Lüdersens Tod. Dass der Mörder ihn deshalb gerichtet hätte, weil der Bauer von ihr dazu verleitet worden wäre, ihr ein Wissen anzuvertrauen, das niemals hätte weitergegeben werden dürfen. Über uralte Riten und Bräuche, die nicht für die Ohren Ungläubiger bestimmt waren. Über blutrünstige Götter, die sich noch als gnädig erwiesen, wenn sie von den Menschen lediglich verlangten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Doch Katja hörte nicht auf diese Einflüsterungen. Sie war es gewohnt, auf das zu achten, was man sah, und nicht auf das, was man zu sehen glaubte. Und zwei Dinge sagten ihr, dass die Wahrheit noch verstörender war: das Blut an der rechten Hand der Leiche und die Lage des Stoßspeers unter dem Ast. Er war kein Opfer. Thies Lüdersen war nicht gerichtet worden, sondern er hatte sich offenbar selbst gerichtet. Katja wankte einen Schritt nach hinten. War das das Ende? War das der Mörder ihres Onkels? Geflohen an einen Ort, an dem er keine Rechenschaft für seine Taten ablegen und sich keiner ihrer bohrenden Fragen stellen musste? Wer war Thies Lüdersen wirklich gewesen? Ein Freund jener Frau, an der Frieder und die anderen sich vergangen hatten? Ein Bruder? Katja ahnte, dass sie Hilfe brauchte, wenn sie dieses Rätsel lösen wollte.
Sie griff in ihre Jackentasche und tastete ins Leere. Kein Handy. Natürlich. Bernd hatte es kaputt gemacht. Aber sie musste die Bullen rufen. Alles andere wäre Wahnsinn gewesen. Hatte Lüdersen auf seinem Hof überhaupt Telefon? Sie würde es herausfinden.
Sie wandte sich um. Ihr war übel. Auf dem Weg zum Haus spuckte sie zweimal aus. Die Ziegen, die sich eben noch an sie gedrängt hatten, wichen stumm vor ihr zurück. Trug sie den Geruch des Todes an sich? Es war ihr egal.
Katja war noch nicht an der Eingangstür, da hörte sie von drinnen eine piepsende, blecherne Melodie, deren fröhlichesAuf und Ab der Leiche am Baum zu spotten schien. Sie beschleunigte ihre Schritte, stieß die Tür auf und machte sich auf die Suche nach Lüdersens Telefon. Als die Kühle des Hauses sie umfing, realisierte sie, dass sie im Begriff war, einen Anruf für einen Toten entgegenzunehmen.
90
Die Meldung über den Leichenfund auf dem Bauernhof war vor drei Stunden eingegangen, und Lukas Möhrs hatte das Gefühl, die letzten hundertachtzig Minuten im Zeitraffer durchlaufen zu haben. Fast so, als hätte die aufgestaute Energie der kompletten Soko bei ihrer Entladung die fundamentalsten Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Der Morgen hatte für ihn damit begonnen, die Logbücher der »Fritz Straßmann« nach besonderen Ereignissen zu durchforsten – eine ziemlich dröge Aufgabe, die dennoch höchste Konzentration voraussetzte. Allein schon deshalb, um sich nicht von den eigenen Zweifeln darüber ablenken zu lassen, man könnte auf den bisher durchgeackerten Seiten etwas Entscheidendes übersehen haben.
Insofern war Möhrs doppelt dankbar für den Anruf, der ihn darüber in Kenntnis setzte, dass es einen neuen Todesfall gegeben hatte. Hauptsächlich, weil bereits anhand der ersten spärlichen Informationen abzusehen war, dass die Soko kurz davor stand, die spektakulärste Mordserie aufzuklären, die je über Güstrin hereingebrochen war. Zum ersten Mal seit über einer Woche hatte Möhrs das Grinsen des Wackeldackels auf seinem Schreibtisch wieder als fröhlich
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