Das Feuer bringt den Tod: Thriller (German Edition)
alt die Menschen geworden waren, die man hier bestattet hatte. Sie schämte sich dafür, denn sie kam sich dabei vor, als würde sie das Leben wie einen Wettbewerb behandeln, aus dem man als Sieger hervorging, wenn man nur länger im Spiel blieb als seine Konkurrenten. Es gab hier gar keine Gewinner, weil solche Kategorien wie Triumph oderNiederlage vor der Ungerührtheit des Todes keinen Bestand hatten. Doch was änderte das schon daran, dass man sich dennoch um etwas Ungreifbares betrogen und von den kühlen Regeln und Gesetzen der Welt hintergangen fühlte, wenn man erkannte, dass die einen viel zu früh gehen mussten, während den anderen so viel mehr Zeit vergönnt war?
Thilo machte halt an einem hüfthohen Betonsockel, in den ein Wasserhahn eingefasst war. Schweigend füllte er eine Gießkanne. Das harte, hohle Prasseln, mit dem das Wasser in das grüne Plastik schoss, war viel zu laut, viel zu aggressiv für die andächtige Stille.
»Soll ich?«, fragte Katja und streckte die Hand nach dem Griff der Kanne aus.
»Geht schon, danke«, erwiderte Thilo und trug sie selbst. Er bog auf einen kleineren Weg ab, an dem links und rechts Gräber aufgereiht waren. Vor einem, auf dem weiße Narzissen und rote Nelken blühten, blieb er schließlich stehen. Er lehnte den Klappstuhl seitlich gegen den Grabstein, in dessen blassrosa Marmor in goldenen Lettern ein Trauerspruch eingelegt war: »Die, die wir lieben, gehören uns nicht.« Darunter stand ein Name: »Julia« .
Die beiden Jahreszahlen auf dem Grabstein lagen dicht beieinander: Julia war nur neun Jahre alt geworden. Katja hatte sofort einen Kloß im Hals.
»Hier liegt meine kleine Schwester«, sagte Thilo.
30
»Leukämie.«
Es war nur dieses eine Wort, das Katja über die Lippen brachte, nachdem Thilo seine Ausführungen über das Schicksal seiner Schwester beendet hatte. Er hatte in kurzenSätzen geschildert, wie es seiner Familie mit der Krankheit ergangen war. Das lähmende Entsetzen nach der ersten Diagnose. Das nervenaufreibende Schwanken zwischen Hoffen und Bangen während der Behandlungen. Das verzweifelte Festklammern an der schwindenden Aussicht, es könne am Ende doch noch alles gut werden, sobald eine Therapie anzuschlagen schien. Der tiefe Sturz in ein gähnendes Nichts, als sich herausstellte, dass niemand mehr etwas für Julia tun konnte. Die unbegreifliche Leere, die mit der Erkenntnis einherging, dass ihr Lachen für immer verstummt und sie bis auf die Erinnerung in den Köpfen und Herzen derer, die sie liebten, restlos verschwunden war.
Selbst Bernd schwieg mit versteinerter Miene.
»Meine Mutter war danach nie wieder dieselbe.« Thilo schüttelte die letzten Tropfen aus der Gießkanne. »Ich weiß, das ist heute schwer zu glauben, aber früher war sie anders. Ich will nicht behaupten, dass sie ein einfacher Mensch gewesen ist. Das nicht. Sie hatte immer eine streitsüchtige, giftige Ader. Aber das war halb so schlimm, weil sie auch sanft und liebevoll sein konnte. Davon ist heute nichts mehr übrig.«
»Das tut mir alles sehr leid«, sagte Katja. »Ehrlich.«
Bernd brummelte nur etwas, das wie »Harter Tobak« klang.
»Ich habe meinen Frieden damit gemacht, dass meine Schwester nicht mehr da ist.« Thilo stellte die Gießkanne ab und steckte die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans. »Meine Mutter hat das nicht geschafft. Ich denke, es war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Sie war mit ihrem Leben vorher schon nicht sehr zufrieden.«
»Inwiefern?«
»Ich war eine Überraschung, kein Wunschkind«, sagte Thilo. »Meine Eltern haben nur meinetwegen geheiratet. Sie wollten nicht, dass die Leute sich das Maul über sie zerreißen.So war das eben damals, wenn man hier in der Provinz wohnte. Mein Vater musste sich auch so schon eine Menge Mist von seinen Freunden anhören. Weil meine Mutter oft lange weg war. Wochen, manchmal sogar ein paar Monate. Auf Forschungsfahrt. Sie hatte eine Stelle als Meeresbiologin an der Uni Rostock. Ich glaube, sie hat meinem Vater nie verziehen, dass er sie dazu gezwungen hat, sich zwischen ihm und dem zu entscheiden, was sie als ihre Berufung gesehen hat. Mein Vater ist ein konservativer Mann. Eine Familie ist man nur, wenn man verheiratet ist, und Kinder brauchen eine Mutter, die sich um sie kümmert.« Er bückte sich, um ein umgefallenes Grablicht aufzustellen. »Sie hat uns zum Mittelpunkt ihres neuen Lebens gemacht. Und als Julia krank wurde …« Ein Schulterzucken.
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