Das Feuer bringt den Tod: Thriller (German Edition)
»Da ist dieses Leben völlig aus den Fugen geraten, und sie brauchte etwas, gegen das sie all ihre Enttäuschung und all ihren Hass lenken konnte.«
»Das Kraftwerk«, sagte Katja leise.
Thilo nickte. »Am Anfang hat mein Vater da auch mitgemacht. Briefe an Behörden und Politiker geschrieben. Treffen und Diskussionsrunden organisiert, die Bürgerbewegung mit ins Leben gerufen.«
»Und dann?«
»Dann hat er sie verlassen.« Thilo wählte denselben sachlichen Tonfall, in dem die meisten alten Männer über ihre Erfahrungen im Krieg sprachen. Als ob Dinge, an denen nichts mehr zu ändern war, nicht mit unnötiger Melodramatik aufgeladen werden mussten. »Quasi über Nacht. Er ist ausgezogen und hat sich einen neuen Job gesucht. In Holland. Ich sehe ihn nicht sehr oft. Ich weiß nicht einmal genau, was zwischen ihnen vorgefallen ist. Er blockt ab, wenn ich dieses Thema anschneiden will. So wie meine Mutter. Vielleicht hat er nur irgendwann eingesehen, dass es Julia nicht zurückbringt, wenn sie sich beide in ihrem Kampf gegen die Kernkraft aufreiben, und das hat sie bestimmt nicht gern gehört. Das hätte ihn in ihren Augen zu einem Verräter gemacht.«
»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Bernd. »Wem geben Sie die Schuld am Tod Ihrer Schwester?«
»Ich halte nicht viel von diesem Begriff. Schuld.« Thilo wischte mit dem Schuh einen verirrten Kiesel von der Grabeinfassung. »Wem sollte ich sie denn geben? Den Leuten aus dem AKW? Den Politikern, die irgendwann mal beschlossen haben, dass Kernkraftwerke gebaut werden? Den Menschen, die diese Politiker gewählt haben? Oder am besten gleich Gott, weil er die Welt so gemacht hat, dass Strahlung Krebs auslösen kann? Oder dafür, dass es überhaupt Krebs und Strahlung gibt? Wohin führt das? Wem nutzt das?«
»Ihre Mutter hat da klarere Vorstellungen«, sagte Bernd. »Und sie erweckte auch nicht den Eindruck, als wäre ihr die Schuldfrage egal.«
»Ich weiß«, räumte Thilo unumwunden ein. »Sie trägt mehr Verbitterung und Zorn mit sich herum, als gut für sie ist.«
Katja schaffte es bei ihrer nächsten Frage nicht, ihm in die Augen zu sehen. »So viel Verbitterung und Zorn, dass sie in der Lage wäre, einen der Menschen umzubringen, von dem sie glaubt, er wäre für den Tod ihrer Tochter verantwortlich?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Thilo. »Ich gehe eher davon aus, dass der Schmerz in ihr sie irgendwann ganz und gar auffrisst. Der Mensch, den sie wahrscheinlich am meisten hasst, ist sie selbst. Weil sie das Gefühl hat, versagt zu haben.« Er klappte den Klappstuhl auf und positionierte ihn am Fußende des Grabes. »Egal. Ich habe dir gezeigt, was ich dir zeigen wollte.«
»Und was kommt jetzt?«, fragte Bernd verblüfft, nachdem Thilo sich auf den Stuhl gesetzt und seine Umhängetasche auf den Schoß genommen hatte.
»Ich habe da ein kleines Ritual.« Thilo zeigte keinerlei Regung, die darauf hingedeutet hätte, dass es ihm unangenehm war, sein merkwürdiges Verhalten zu erklären. Im Gegenteil:Er hatte wieder dieses hintersinnige Lächeln aufgesetzt, das Katja alles andere als unsympathisch war. »Ich habe meiner Schwester früher viel vorgelesen. Sie liebte Bücher. Und einmal, ein paar Wochen vor ihrem Tod, hat sie mich gefragt, ob ich ihr denn auch noch vorlesen würde, wenn ich sie nicht mehr sehen kann. Das war von Anfang an ihr Ausdruck für die Zeit nach ihrem Tod. Wenn wir sie nicht mehr sehen können. Sie hat geglaubt, sie wäre immer noch da. So fest, wie nur Kinder so etwas glauben können. Und ich habe ihr versprochen, dass ich nie aufhören würde, ihr vorzulesen. Deshalb bringe ich auch immer ein Buch mit, wenn ich sie besuche.« Er sah zu Katja. »Du kannst gerne zuhören. Es stört mich nicht.«
»Sicher?« Es war eines der ungewöhnlichsten Angebote, die Katja jemals unterbreitet worden waren. Eines konnte man Thilo auf keinen Fall vorwerfen: dass er irgendwelche Schwierigkeiten damit hatte, sich gegenüber anderen Menschen zu öffnen. Eine angenehme Abwechslung. Oder wollte er nur höflich sein? Enzo machte das manchmal. Dinge sagen wie »Logisch kannst du heute bei mir übernachten« oder »Ich kann das Hockeytraining auch mal für dich ausfallen lassen«, und hinterher merkte sie ganz genau, wie er eigentlich darauf gehofft hatte, sie würde seine Angebote ausschlagen. »Ganz sicher, dass es dich nicht stört?«
»Ganz sicher.« Er machte seine Tasche auf. »Du kannst ja jederzeit gehen, falls du dich
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