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Das Feuer das am Nächsten liegt

Das Feuer das am Nächsten liegt

Titel: Das Feuer das am Nächsten liegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cherry Wilder
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hell, wie ich es stets gesehen hatte: ich konnte Farben erkennen – das dunkle Patinagrün der Schuppen, das zarte Fischblau des Unterleibs. Einen doppelt so langen Körper wie das Floß, mit Silberspitzen an den Flossen, die sich wie Vogelflügel entfalteten und flatterten; starke Saugfüße, die sich an das Floß hefteten und es mit einem Ruck hätten versenken können. Hoch über mir gewahrte ich den Seesonner, der ruhig und methodisch den Abfall aus der Umzäunung fraß.
    Der Kopf war breit und flach; ich konnte die sich wölbenden dunkelregenbogenfarbenen Schuppen an den Ecken der langen Kiefer sehen. Da waren stachelige Auswüchse und ein kurzer Schopf auf dem Schädel; die Augen lagen tief und verschleiert, bloß Lichtfäden. Es war ein schreckenerregender und zugleich eindrucksvoller Anblick, aber als ich beobachtete, wie dieses gigantische Geschöpf beim Fressen pfiff und knurrte, ließ die Ehrfurcht vor diesem heiligen Tier nach. Es flößte nur Furcht durch seine Größe ein; es war so natürlich und sogar so schön wie ein hoher Baum oder Berg.
    Der Sonner nahm überhaupt keine Notiz von mir. Die Vanos, die aus ihrem Schlaf auf dem Wasser oder auf den Floß selbst aufgescheucht worden waren, flatterten protestierend um diesen neuen Vielfraß herum, der den Eindruck erweckte, alles Essen auf dem Floß zu vertilgen. Als er sich bewegte und seine Lage veränderte, wackelte das Roß gefährlich, aber ich vermutete, daß der Sonner es nicht zum Sinken bringen wollte. Die Locken auf seinem Leib trieben mühelos auf dem Wasser und dienten gewissermaßen als Ruder. Aber die Geschwindigkeit des Floßes war gebremst worden, und ich erkannte die wirkliche Gefahr: wir wurden von der Rundströmung abgedrängt. Es gab im Osten eine klare Trennungslinie auf dem Ozean, und wenn wir diese breite Spur der Wasserströmung verließen, würden wir in eine Flaute geraten und die Inseln nicht erreichen.
    Ich kehrte zu Tsorl zurück, der nicht weit weg war; er hatte sich einen eigenen Ausguck im Bara-Stroh gemacht, um den Sonner zu beobachten. Wir kauerten uns im Dunkeln flüsternd zusammen.
    „Wir werden aus der Strömung herausgedrängt“, sagte ich.
    „Dann müssen wir dieses Biest vom Floß loswerden“, murrte er.
    Ich hatte keine Waffe, aber da lag ein Rotholzast, der fester war als Bara und den ich als Ruder beiseite gelegt hatte. Wir begaben uns aufs offene Deck, wo ich gestanden hatte; Tsorl folgte mir flink, aber ich wußte, daß er nicht schmerzfrei sein konnte.
    Der Sonner hatte seine Lage kaum verändert. Ich umklammerte meine Astkeule und bewegte mich kühn über das Deck, bis ich im hellen Licht von Esder ungefähr zwanzig Fuß unterhalb seines riesigen Kopfes und innerhalb seines Blickfelds stand. Ich griff in den Abfallhaufen, packte eine halbe Melone und schleuderte sie auf das rechte Auge, wobei ich mit aller Kraft schrie.
    Der Sonner gab ein schrilles Pfeifen von sich, als die halbe Melone sein Augenlid traf, und wich etwas zurück. Das Floß hob sich und schwankte … und der Sonner sah mich an. Erwandte den Kopf auf eine Seite und weitete sein linkes Auge so, daß ich das Gefühl hatte, von einem grellen Grünstahl getroffen zu werden. Ein unglaublicher Dreitonschrei, ein Klang zwischen Gejammer und Fragerei, kam aus seinem furchterregenden Maul: „Uh-uh-uh!“
    Instinktiv duckte ich mich hinter den Zaun. Es trat einen Augenblick Stille ein, und eine Reihe weiterer kleinerer Bewegungen erschütterten das Floß. Ich richtete mich wieder auf, schrie nochmals lauthals und sah, daß der Sonner sich flach auf den Abfall legte und mir auflauerte.
    „Uh-uh-uh“, winselte er leise.
    „Fort von hier! Nichts als fort, du verdammtes Ungeheuer!“ brüllte ich.
    Der Sonner knurrte laut; ich zog wieder meinen Kopf ein.
    „Uh-uh“, säuselte der Sonner. „Du … du?“
    Ich hüpfte wie ein Stehaufmännchen hoch; der Sonner beugte sich erwartungsvoll mit geschlossenen Augen nach vorne. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen – ich lachte über das, was wir trieben, und brüllte wieder über mein Gelächter hinaus. Der Sonner öffnete seine Augen und gurrte vor Vergnügen. Zum dritten Mal verschwand ich aus seiner Sicht.
    „Beim Feuer, das die Welt spaltete, was treibt Ihr denn mit diesem Ungeheuer?“ rief Tsorl.
    „Wir spielen zusammen!“ sagte ich. „Der Sonner ist wie ein Kind – er spielt mit mir ‚Ich seh, ich seh, was du nicht siehst’.“
    „Yolo Horn, Ihr seid verrückt …“
    „Uh-du“,

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