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Das Feuer das am Nächsten liegt

Das Feuer das am Nächsten liegt

Titel: Das Feuer das am Nächsten liegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cherry Wilder
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Insel – meine gute grüne Insel Tsabeggan –, wo ich in einem Teil meines Gedächtnisses immer und ewig lernen und spielen würde. Dann sank ich in Schlaf und schlief den Rest des langen Tages vor der Kerzennacht und träumte nur einen schlichten angenehmen Traum, in dem ich mit jemandem, der der Segelmeister von dem Salzschiff Galvo gewesen sein mochte, über eine ruhige See segelte.
    Ich wachte im Dunkeln auf, in der sogenannten „langen Dunkelheit“, die dem Mittjahr vorausgeht; es gab keine Feuerzeremonien in der Haupteinfriedung von Itsik. Dann ging ich zum Fensterschlitz und schaute über jenen grauen Platz, der dem Meer abgewonnen worden war. Jenseits der Gräber am Rande der Lagune konnte ich einige flackernde Lichter sehen. Ein einziger Ballon aus Weidenpapier stieg auf und leuchtete hoch in die Luft. Die Kerzen, die Cos auf ihren Bara-Blätter-Flößen abgestoßen hatte, glitten in die Dunkelheit davon. Stück für Stück wurden ihre Flammen von der See ausgelöscht.

 
Das Fest von Wind und Feuer
     
    Mittjahr war ein vollkommener Sommertag, der Himmel war klar und blaßblau, es wehte ein guter Wind für das Drachensteigenlassen. Die Gerberei und die Talgfabriken waren seit fünf Tagen geschlossen, und der Gestank von Itsik hatte sich endlich vermindert. Das Fest an sich mußte gezwungenermaßen hier in der ersten Einfriedung etwas Armseliges und Albernes sein, das sagte ich mir wenigstens, als niemand meine Tür öffnete, um mir etwas zu essen zu bringen. Alles, was ich stundenlang hörte, war fernes Gewirr und Stimmengemurmel. Ich fühlte mich wohl und kräftig, und meine Stimme war geheilt; ich probierte sie mit ein paar Liedern und Rufen aus, aber niemand hörte mich oder schenkte mir Beachtung. Ich lief in der winzigen Zelle herum und machte einige Morgenübungen von Sam – es hatte ihn immer gewurmt, daß ich mehr Liegestütze machen konnte als er, aber ich sah den Sinn davon nicht ein.
    Endlich gegen Mittag, als ich sehr hungrig war, wurde meine Hüttentür geöffnet, und da stand ein wettergebräuntes grinsendes männliches Wesen in schwarzem Lederanzug und mit einer fast neuen Perücke, das mir einen Schluck Maische gab. Sein Gesicht kam mir doppelt bekannt vor; das Leben draußen hatte ihn gekennzeichnet, seine Falten waren tiefer, aber er hatte buschige Brauen, eine Hakennase, einen schmallippigen Mund. Nur seine Hände waren kräftig und breit, nicht die Hände eines Aristokraten; sonst glich er einem Zwilling des Großen Ältesten.
    „Komm mit, Kleine“, sagte Schwarzboß. „Das brave Volk von Itsik ruft nach dir.“
    Ich trat verwirrt nach draußen, wo Eskorten in den Farben sämtlicher Clans auf mich warteten.
    „Blick nicht so ängstlich drein!“ sagte einer. „Wir werfen dich nicht in einer Decke hoch. Sie wollen, daß du bei den Glücksdrachen mitmachst!“
    Sie gaben mir Bohnenbrot und einen tüchtigen Schluck Maische und erklärten mir die Sitte, als wir durch die Palisade in die Haupteinfriedung gingen. Jeder Gefangene von Itsik war dort; es glich einer Versammlung von Geisterclans. Es war eine merkwürdige geordnete Menge, die in Reih und Glied um die Essenströge herumstand, als wüßten sie nicht so recht, wie sie sich daran gütlich tun sollten. Da stand ein Holzturm – doppelt so hoch wie ein großer Webstuhl –, und auf seiner Plattform lag ein großer Drachen, ein geflügelter Kasten, der für das Glück aufsteigen und im nächsten halben Jahr den Fluch der Winde verhüten sollte. Ein Glücksdrachen erforderte einen Glückdrachenflieger, und ein weibliches Wesen, das von den Toten zurückgekehrt war, schien eine gute Wahl zu sein.
    Schreie für die Kleine der Dohtroys erhoben sich, als wir nahten, und hilfsbereite Hände wurden ausgestreckt, um mich die Leiter erklimmen zu lassen. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen so großen Drachen aufsteigen lassen, aber ich mußte eingestehen, daß mein Glück, innerhalb der Grenzen der Vernunft, tatsächlich sehr gut gewesen war. Ich kletterte in den Wind und winkte der Menge zu. „Wie soll ich das schaffen?“ rief ich. „Gebt mir gute Ratschläge!“
    Daran fehlte es nicht. Ich sah, daß meine Taue in gutem Zustand waren, als Schwarzboß auf einem mit Grün bedeckten Podium bei der Palisade Platz nahm. Da saß er mit seiner Fünf und ihren Kindern und spielte den Ältesten. Er blies in seinen Röhrer, um den Flug zu starten, und ich hob den Drachen hoch, wie man es mir gesagt hatte. Der Wind auf dem kleinen Turm war

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