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Das Feuer das am Nächsten liegt

Das Feuer das am Nächsten liegt

Titel: Das Feuer das am Nächsten liegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cherry Wilder
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stark, und ich segelte fast mit dem verflixten Drachen davon. Das war das Glücklichste, was die Zuschauer je gesehen hatten, und Jubel brauste auf. Auch der Drachen erhob sich aufrecht in den Wind, als ich die Leine lockerte. Es war ein schönes Gefühl, der Drachen war gut ausgewogen und ritt auf dem Wind wie ein Lebewesen. Ich band ihn von dem Geländer der Plattform los und nahm Essens- und Wassergaben entgegen.
    Klappern und Dudelsäcke erklangen; die Tore der Palisade wurden geöffnet, und ein Vasall rannte zu Schwarzboß, der seinen Röhrer blies. Die Itsik-Wächter bahnten einen Weg, und der Ruf ertönte: „Mehr Glück! Mehr Glück!“ Eine Prozession betrat die erste Einfriedung; die Gefangenen standen verwundert über das Ausmaß des Glücks, das ihnen heute zuteil wurde, da.
    Erst erschienen die Musikanten, dann ein weibliches Wesen mittleren Alters in merkwürdig altmodischer Kleidung: eine der Wahrsagerinnen von Windfels, vermutete ich. Sie trug eine Schale mit zeremoniellem Feuer, das blau und grün brannte. Zur Zeremonie des Mittjahrs gehörte es, Feuer in Wasser auszulöschen, und sie beabsichtigte, dieses Feuer zum Hafen von Itsik zu tragen. Hinter der Wahrsagerin schritt eine große Omor in Grau und Grün für den Haushalt der Pentroys, und auf ihren Schultern ritt das Glück des Avran Pentroy. Urnat war so schick gekleidet wie immer und bester Laune.
    „Glück! Glück!“ kreischte er. „Ich habe euch meinen eigenen Drachen gebracht und eine Glücksperson, um ihn fliegen zu lassen!“
    Der Drachen wurde von zwei Dienern gebracht; er war herrlich angefertigt, ein großer blau-gelber Vogel. Die Drachenfliegerin, der eine Hausdienerin ganz zur Verfügung stand, war Karin-Ru.
    Mir drehte sich der Kopf bei dieser Gelegenheit; ich hatte allmählich das Gefühl, daß es wirklich ein Glückstag war. Hände wurden wieder ausgestreckt, und schon bald standen beide auf der Plattform neben mir.
    „Yolo!“ rief Karin. „Das ist einfach verrückt … was sollen wir denn tun?“
    „Da ist sie!“ sagte Urnat. „Sprich mit meiner Ka-rin, Sprechender Vogel. Ich habe sie hierher gebracht, weil sie nach dir gefragt hat. Schließlich bist du nicht schwer zu finden.“
    Ich übersetzte das Karin, und sie lächelte Urnat dankbar an, der vor Freude herumhüpfte.
    „Denkt an die Plattform, Urnat Avran!“ sagte ich. „Haltet Euch still, Hoheit …“
    Der prächtige Pentroy-Drachen wurde heraufgeschleppt; ich ordnete seine Seile und half Karin, ihn in den Wind zu heben. Er flog bereitwillig, war aber nur schwer in den Griff zu bekommen und strich über die Köpfe der Menge, die jubelte und aus vorgetäuschter Angst aufschrie. Urnat wollte die Seile packen, aber das konnte ich nicht zulassen; ich hatte eine Vision, daß das Glück der Pentroys von den Winden davongetragen werden könnte. So standen wir lachend und wie Kinder mit den Drachen kämpfend auf der Plattform. Drunten hatten die Wahrsagerin und die Musikanten den Kai erreicht: Jubel erhob sich, als das Feuer im Meer ausgelöscht wurde. Karin-Ru lenkte nun ihren Drachen geschickt, und ich ließ meinem Kastendrachen mehr Leine; die beiden Drachen schwebten hoch in den blaßblauen Himmel von Itsik, als wollten sie diesen armen Leuten einen Segen spenden, von dem sie nicht einmal geträumt hatten.
    Das Geräusch klang wie ferner Donner; ich hörte es und hörte es in dem Gelächter und Gejubel wiederum nicht. Dann erfolgte eine Reihe kleiner Explosionen, nicht lauter als eine Klapper oder Trommel. Noch achtete niemand darauf. Dann ertönte ein Grundton, ein Surren begann über unsere Köpfe zu tröpfeln wie der Dunst von Maische. Ich sah, daß Urnat Avran, dessen Gehör sehr scharf war, den Kopf schüttelte und sich auf die Ohren klopfte, um das Surren zu verscheuchen. Dann erfolgte fern über dem Ozean ein heftiges Dröhnen, das gespenstisch über See und Land widerhallte. Ich sah, daß Karins Hände an den Seilen des Vogeldrachens zuckten und zitterten.
    Der Lärm der Menge verstummte einen Augenblick, um sich wieder zu verdoppeln, als jeder fragte: „Was ist denn das?“
    Das Geräusch erklang wieder. Es war ein absolut neues Geräusch: es drang zum erstenmal in die Ohren aller in Torin. Es klang wie Donner; es klang wie der Aufprall eines Felsbrockens, es war ein Auseinanderreißen der Luft, als hätten die Winde durchgedreht. Der Grundton wurde lauter; Urnat schrie schrill auf und wälzte sich über die Plattform, wobei er sich die Ohren zuhielt. Ich

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