Das Feuer der Wüste
Augen, seufzte noch einmal und wurde so schwer in Ruths Armen, dass diese sie nicht länger halten konnte. Hilfesuchend sah Ruth sich um. Sie konnte sie doch nicht einfach auf die dreckige Straße sinken lassen, auch jetzt nicht!
»Hey«, rief sie leise, aber doch so laut, dass die Umstehenden sie hören konnten.
Eine Frau drehte sich um, sah zu ihr, entdeckte die Tote und stieß einen Schrei aus. »Davida!« Sie riss den Mann neben sich am Arm und deutete auf die Tote. »Davida!«
Der Mann rief ebenfalls den Namen der Toten, dann griff er seinen Nachbarn am Kragen, bis auch der die Tote sah und zu schreien begann.
Die ältere Frau hatte sich neben Ruth auf die Knie niedergelassen und den Kopf der Toten an ihre Brust gezogen. Sie wiegte die Verstorbene und heulte so laut, dass alle ringsum stehen blieben.
Ruth saß noch immer wie betäubt auf dem Boden. Sie sah, was um sie herum geschah. Sie hörte den Lärm, das Schreien, das Heulen und die Schüsse, doch nichts davon drang in ihr Bewusstsein. Sie dachte jetzt wieder daran, dass Claassen eine Verlängerung des Kredits verweigert hatte, und daran, dass dies auch ihr Ende bedeutete. Es war, als habe sich der Tod mit dem letzten Atemzug der Schwarzen auch über Ruth gelegt. 15 000 Pfund. War das der Preis für ein Menschenleben? Für das Glück? Oder lediglich der Preis für eine einzige Nacht?
Ruth hasste sich für ihre Gedanken. Wie konnte sie beim Anblick einer Toten nur an ihr eigenes Unglück denken? Sie hatte schon Tiere sterben sehen, doch erst der Tod der Frau hatte ihr deutlich gemacht, wie zerbrechlich ein Mensch, wie zerbrechlich eine Existenz war. So wenig genügte, um ein Leben zu zerstören. So viel musste getan werden, um etwas aufzubauen. Die Mutter der Toten – wie viele Jahre lang hatte sie für ihr Kind gesorgt? Wie viel Liebe hatte sie ihr geschenkt? Und eine einzige, winzige Kugel hatte gereicht, um innerhalb von Sekunden auszulöschen, was andere in Jahren großgemacht hatten.
Ruth wusste nicht, ob sie wegen der Toten oder um ihrer selbst willen weinte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so einsam, so gottverlassen, so vater- und mutterlos gefühlt.
»Stehen Sie auf, Miss.« Ein Mann stand auf einmal neben ihr, der Schwarze mit der dicken Brille. Dieses Mal sah er sie an. »Stehen Sie auf, Miss«, wiederholte er. »Sie können hier nicht bleiben. Die Polizisten.« Er streckte die Hand nach ihr aus.
Ruth ließ sich von ihm hochziehen, taumelte und wäre beinahe an seine Brust gesunken. Er hielt sie fest, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
»Was machen Sie überhaupt in dieser Demonstration?«, fragte er verwundert. »Kein Weißer läuft bei uns mit, höchstens die guten Menschen von den Sozialstationen. Aber so sehen Sie nicht aus. Also: Warum?«
Ruth fühlte sich sofort angegriffen und reagierte mit Trotz. »Warum nicht? Ist es vielleicht verboten?« Ihre Stimme zitterte. »Sie selbst haben mich doch eingeladen.«
»Nein, ist es nicht.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Verbote für Weiße gibt es kaum. Aber misstrauisch dürfen wir schon sein. Sind Sie etwa von der südafrikanischen Security? Sind Sie hier, um unter uns Kommunisten aufzuspüren?« Er sah sie so streng an, dass sich Ruth fühlte, als wäre er ein Lehrer und sie seine renitente Schülerin.
»Lassen Sie mich los«, zeterte Ruth, dann aber musste sie lachen.
»Was ist so komisch?«, fragte der Schwarze ernst.
»Dass Sie mich für jemanden aus dem Geheimdienst halten, das ist komisch. Eine Kommunistenjägerin! Sehe ich aus, als würde ich mir Gedanken darum machen, wie ich möglichst viele Kommunisten zur Strecke bringen kann? Hätte ich dann vielleicht im Dreck gesessen und die schwarze Frau in den Armen gewiegt?« Ohne dass Ruth es bemerkte, war ihre Stimme immer lauter, immer zorniger geworden. War sie denn heute überall am falschen Platz?
Er schob sie ein wenig von sich, betrachtete sie. »Nein«, entschied er dann. »Sie sehen aus wie jemand, der von den Dingen, die in unserem Land geschehen, nicht viel Ahnung hat.«
Hinter ihnen erhob sich erneut ein Geschrei. Ruth wandte sich um. Einige Schwarze hoben die Tote vom Boden auf, trugen sie unter Wehklagen davon. Ruth sah ihnen nach. Ohne zu wissen, warum, fühlte sie sich mit dieser Frau verbunden, beinahe so, als wäre sie eine nahe Verwandte. »Was geschieht mit ihr? Wohin bringt man sie?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Sie ist in meinen Armen gestorben. Ihre letzten Worte …«
Weitere Kostenlose Bücher