Das Feuer der Wüste
ihr und einem jeden sonst auf der Welt widerfahren war. Sie brüllte zugleich ihre Wut über Mister Claassen in die Menge, ihre Angst vor der Zukunft. Sie stampfte mit den Füßen auf und schüttelte ihre Fäuste, bis sie völlig nass geschwitzt und außer Atem war.
Wenig später sah Ruth, wie in einer Seitenstraße eine schwarze Limousine vorfuhr. Ein Weißer stieg aus und betrachtete die tobende Menge. Sie erkannte ihn sofort wieder; es war der Südafrikaner, der sie am Morgen mit zur Bank genommen hatte. Am liebsten hätte sie den Zug verlassen, wäre zu ihm hingegangen, hätte auf sich gezeigt und gesagt: »Sehen Sie! Ich bin auch eine von denen, ich gehöre zu den Kaffern, den Affengesichtern. Wenn nicht durch meine Hautfarbe, dann doch von Herzen. Und auch mir ist Unrecht geschehen.«
Ruth beobachtete, wie der Mann einen der berittenen Polizisten heranwinkte und ihm etwas sagte. Und sie sah, wie der Polizist nickte, zu einem anderen ritt und ihm ebenfalls etwas zurief, wie dieser zum nächsten ritt und immer so weiter.
Ruth ließ die Männer nicht aus dem Blick. In den Augen des Polizisten glimmte etwas, das ihr bekannt vorkam. Die Männer ihrer Umgebung hatten dieses Flimmern in den Augen, wenn sie auf die Jagd gingen. Und tatsächlich! Schon nahm der Erste sein Gewehr von der Schulter, und die anderen taten es ihm nach. Ruth stockte der Atem. Sie werden doch nicht schießen wollen, dachte sie. Südwestafrikaner werden doch nicht auf Südwestafrikaner schießen wollen!
Die Menge schrie noch aufgebrachter als zuvor.
»Wollt ihr uns etwa töten, nur weil wir wohnen wollen wie Menschen?«, rief die Frau, an deren Arm Ruth ging.
Zwei schwarze Männer suchten auf dem Boden nach Wurfgeschossen. Dann ging alles ganz schnell. Einer aus der Menge holte aus und warf etwas auf die Polizisten, vielleicht einen Stein, vielleicht ein hartes Stück Holz. Ein Pferd stieg auf und wieherte. Ruth hörte, wie ein Polizist brüllte: »Die Kaffern schießen auf uns!« Und schon legten die Polizisten ihre Gewehre an und schossen blind in die Menge.
Hinter Ruth schrie jemand vor Schmerz auf, neben ihr sank ein Junge zu Boden.
»Runter!«, schrie Ruth. »Alle runter!« Ihr kam es kurz in den Sinn, dass es keinem helfen würde, wenn sich alle gleichermaßen duckten. Aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie konnte nur noch handeln. Unbewusst nahm sie wahr, dass einer der Polizisten nun in ihre Richtung zielte. Sie riss am Arm der schwarzen Frau. Die wehrte sich, doch mit einem Mal ließ der Widerstand abrupt nach, und die Frau stürzte auf Ruth. Sie roch nach Mieliepap. Ja, nach Mieliepap und Waschpulver, genau wie Mama Elo. Und der Stoff ihres Kleides kitzelte an Ruths nacktem Unterarm wie Mama Isas Kleid, wenn sie Ruth zur Begrüßung an sich zog.
»Hey«, sagte sie leise, »Sie erdrücken mich. Ich kriege kaum noch Luft.« Aber die Frau rührte sich nicht.
Ruth spürte, wie ihre Hand nass wurde, und als sie sie unter dem Körper der Frau hervorzog und vor die Augen hob, war sie rot vor Blut. Ruth schrie entsetzt auf. »Hilfe! So steht doch nicht rum! Helft mir, die Frau, sie verblutet.«
Auf einmal beugten sich von allen Seiten Menschen zu Ruth hinunter. Zwei junge Männer versuchten, die alte Frau aufzurichten, damit Ruth unter ihr hervorkriechen konnte. Der größere von ihnen schüttelte bedauernd den Kopf, während der kleinere den Kopf der Schwarzen in Ruths Schoß bettete. Unfähig, sich zu bewegen, saß sie mit der sterbenden Frau in den Armen inmitten der tosenden Menge. Um sie herum schrien und brüllten die Menschen; sie trampelten und rannten, weinten und schossen. Nur Ruth schien unantastbar, unberührbar zu sein, eine kleine friedliche Insel inmitten eines blutigen Krieges.
Ruth wiegte die Sterbende sacht hin und her und summte ein Lied, das Mama Elo ihr vorgesungen hatte, als sie noch ein Kind war. Ruths Wut auf den Banker war verraucht. Sie sah nur die Frau in ihren Armen, betete für sie, weinte. Die Farm, ihre Sorgen um ihre eigene Zukunft, all das zählte nicht mehr im Angesicht dieser Frau, die mit dem Tode rang.
»Margaret.« Die Frau richtete ihre großen dunklen Augen auf Ruths Gesicht und verharrte dort, suchte darin – und fand etwas, denn sie lächelte mit einem Mal. Ruth beugte sich tief über sie, um ihre letzten Worte zu hören. »Margaret«, flüsterte die schwarze Frau noch einmal, »Margaret Salden. Ich habe immer gewusst, dass du eine gute Frau bist.«
Dann schloss sie die
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