Das Feuer der Wüste
Ruth schluckte die aufsteigenden Tränen herunter.
»Sie fühlen sich ihr nahe?«, fragte der Schwarze.
Ruth nickte. »Ich war der letzte Mensch, den sie gesehen, mit dem sie gesprochen hat.«
»Sie bringen sie nach Hause. Dort wird sie aufgebahrt, damit Freunde und Verwandte von ihr Abschied nehmen können. Anschließend wird sie beerdigt.«
»Sie … Sie …« Ruth kämpfte noch immer mit den Tränen. »Sie hat den Namen meiner Großmutter genannt.«
Der Schwarze nickte auf eine Art, die Ruth zeigte, dass er ihr nicht glaubte. Er legte ihr kurz einen Arm um die Schulter und sah sie unentschlossen an. Dann seufzte er. »Wenn Sie möchten, können Sie mit mir kommen. Ich gehe zu Davidas Haus, um Abschied zu nehmen. Vielleicht hilft es Ihnen, sie noch einmal zu sehen. Aber dann sollten sie machen, dass sie wieder nach Hause kommen.«
Ruth nickte. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich die Menge um sie herum aufgelöst hatte. Inzwischen heulten Krankenwagen heran. Sie hielten wenige Meter von Ruth und dem Schwarzen entfernt. Sanitäter sprangen heraus, riefen knappe Befehle. Die Polizisten wirkten ratlos. Sie ritten auf ihren Pferden langsam auf und ab, hielten die Waffen schamhaft hinter dem Rücken versteckt. Hier und da knieten Schwarze am Boden, beteten, fluchten, weinten.
»Es gibt noch mehr Tote«, stellte Ruth fest.
»Insgesamt elf – bis jetzt. Die Polizei hat blind in die Menge geschossen.«
Ruth sah dem Schwarzen zum ersten Mal ins Gesicht. Seine Stimme klang so verloren. Sie sah in dunkelbraune Augen, die hinter den dickwandigen Brillengläsern versteckt waren, sah in ein schmales Gesicht mit einer flachen Nase und großzügigen Lippen. Für einen Augenblick erinnerte sein Mund sie an Daisy, ein Schaf, das sie mit der Flasche aufgezogen hatte und dessen weiche Lippen sich so oft um ihren kleinen Finger geschlossen und daran gesaugt hatten. Beinahe hätte Ruth über den Vergleich gelacht, doch dann sah sie das Blut auf dem Boden, und das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken.
Obwohl der Mann schwarz wie ein Eingeborener war, konnte Ruth Bartwuchs an seinem Kinn erkennen. Er war groß, überragte Ruth um Haupteslänge und war so schlank, dass man ihn getrost als dürr bezeichnen konnte. Seine Arme hingen neben seinem Körper herab, als gehörten sie nicht zu ihm.
»Das tut mir leid«, sagte Ruth leise.
»Sie können ja nichts dafür«, erwiderte der Mann und fügte hinzu: »Kommen Sie, wenn Sie möchten.«
Er bahnte ihr einen Weg durch die Menge, klopfte hier auf eine Schulter, sprach an anderer Stelle ein Wort zum Trost. Ruth staunte ein wenig, dass die Demonstranten nicht in Panik geraten waren, als die Polizisten auf sie geschossen hatten. Im Gegenteil: Es war, als hätte sie eine kollektive Starre befallen, die noch immer anhielt. Schweigend folgte Ruth dem Mann. Sie war dankbar, dass da einer war, der sich ihrer annahm, der ihr sagte, was sie machen sollte, sie an die Hand nahm. Für einen Augenblick fragte sie sich, warum sie nicht längst im Zug zurück nach Gobabis saß. Aber wie sollte sie ihrer Mutter, Mama Elo und Mama Isa jetzt unter die Augen treten? Was sollte sie ihnen sagen? Die Farm ist verloren, und in der Hauptstadt werden Schwarze erschossen? Nein, sie konnte erst zurück nach Salden’s Hill, wenn sie eine Lösung für die Farm gefunden hatte.
Und noch etwas hielt sie in Windhoek: der Name ihrer Großmutter, Margaret Salden. Ruth wusste, dass die Gründung der Farm auf ihre Großeltern zurückging. Margarets Mann Wolf war noch in Deutschland geboren, doch seine Eltern waren 1885 mit dem Achtjährigen nach Südwest ausgewandert, wo am 30. April die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika gegründet worden war. Die Gesellschaft verpachtete und verkaufte Land, das ihr nicht gehörte: Hereroland, Ovamboland, Kavangoland, Damaraland, Namaland. Die Eingeborenen hinderten sie nicht daran, und schneller, als sie denken konnten, waren aus den einstigen Herren von Südwestafrika Sklaven der Weißen geworden.
Ruths Großmutter Margaret war schon in Südwest geboren worden, auf der Farm ihres Vaters, im Jahre 1883. Als sie den sechs Jahre älteren Wolf heiratete, war sie noch keine achtzehn Jahre alt. Die beiden begründeten Salden’s Hill und 1903 mit Rose eine richtige Familie.
Mehr hatte Rose nicht verraten. Fragte Ruth nach, was damals genau geschehen war, erhielt sie keine Antwort. »Lass die alten Geschichten«, sagte Rose nur. »Was vergangen ist, muss ruhen. Der Schmerz
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