Das Feuer der Wüste
wird nicht weniger, wenn man ihn oft fühlt.«
Mama Elo und Mama Isa sprachen ebenso wenig wie Rose über die Zeit vor Ruths Geburt. So wusste Ruth lediglich, dass die beiden Schwarzen, die schon seit Urgedenken auf Salden’s Hill lebten, ihre Mutter gemeinsam aufgezogen hatten. Warum dies so war, warum Margaret Salden ihre Tochter nicht selbst großgezogen hatte – darum machten alle ein Geheimnis. Was für ein Mensch war Margaret Salden gewesen? Die Frau, die in Ruths Armen gestorben war, hatte sie offensichtlich gekannt. Aber wo lebte sie jetzt? Lebte Margaret Salden überhaupt noch? Was war mit ihr geschehen? Und warum sprach auf der Farm niemand von ihr? Warum gab es keine Fotos, keine anderen Erinnerungsstücke?
Ruths Gedanken wirbelten in ihrem Kopf umher wie ein Wasserstrudel. Sie fühlte sich plötzlich so erschöpft, als hätte sie den ganzen Tag lang Schafe geschoren. »Nicht so schnell, bitte«, bat sie.
Der Schwarze blieb stehen und maß sie mit einem besorgten Blick. »Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Horatio.«
Ruth reichte ihm die Hand. »Ruth Salden. Ich bin Farmerin – draußen, bei Gobabis, auf Salden’s Hill.«
»Karakulschafe, oder?«
Ruth nickte, woraufhin Horatio geringschätzig das Gesicht verzog.
»Was passt Ihnen an Karakulschafen nicht?«, fragte sie.
»Der Grund, aus dem sie gezüchtet werden.«
Eine Weile gingen sie schweigend hintereinander her. Mir macht es auch keinen Spaß, neugeborene Lämmer zu töten, dachte Ruth mit heimlicher Entrüstung. Aber wie soll ich sonst mein Geld verdienen? Namibia besteht nun mal im Wesentlichen aus Wüste. Die Karakulschafe sind das Einzige, womit man als Farmer hier überleben kann. »Und Sie? Was machen Sie?«, fragte Ruth dann. »Arbeiten Sie irgendwo?«
Horatio blieb stehen, nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Zipfel seines Hemdes. »Ich bin Historiker. Man hat mich beauftragt, die Geschichte meines Volkes zu erforschen.«
»Zu welchem Volk gehören Sie denn?«
Horatio richtete sich auf und wirkte dadurch noch größer und schmaler, als er ohnehin war. Seine Augen funkelten vor Stolz. »Ich bin ein Nama.«
An Horatios Blick erkannte Ruth, dass sie zeigen musste, wie beeindruckt sie war, und so zog sie anerkennend die Augenbrauen hoch. Sie schämte sich ein wenig, denn sie wusste zwar, dass es in Namibia eine Vielzahl von Stammesverbänden gab, hatte sich bislang aber noch nicht für die Gemeinsamkeiten, die Herkunft und die Unterschiede der einzelnen Gruppen interessiert. Natürlich waren Ruth ihre Arbeiter nicht gleichgültig, aber dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie nur wenig über die Menschen wusste, mit denen sie Tag für Tag zusammen war.
»Wie weit ist es noch?«, fragte sie und deutete auf ihre Füße. »Mir tun ganz schön die Füße weh.«
»Was, schon müde? Ich dachte, ihr Farmer wäret gut zu Fuß.«
»Glauben Sie vielleicht, wir laufen unsere Weiden ab? Und dazu noch in Schuhen wie diesen? Wozu gibt es schließlich Pferde, wozu Bakkies und Motorräder?«
Horatio lachte. »Eine halbe Meile müssen Sie schon noch durchstehen, aber dann sind wir da.«
Es war nicht zu übersehen, dass sie die Wohngebiete der Weißen langsam verließen. Die Straßen wurden löchriger, die Häuser wirkten ärmlicher, und je weiter sie in das schwarze Viertel eindrangen, desto schäbiger sah alles ringsum aus. Bei vielen Häusern waren Holzlatten vor die nicht verglasten Fensteröffnungen genagelt; die Geschäfte verkauften weder Schmuck noch Modewaren, sondern einfache Lebensmittel wie Bohnen, Linsen und Kürbisse.
Vor den halb verfallenen Häusern saßen alte schwarze Frauen und Männer auf lädierten Plastikstühlen und beobachteten die Straße. Einige magere Hunde suchten im Rinnstein nach Abfällen; an den Straßenecken standen junge Schwarze mit grimmigem Gesichtsausdruck zusammen, in einer Hand eine Zigarette, in der anderen Hand eine Flasche Bier. Weiter hinten konnte Ruth Wellblechhütten erkennen. Häuser konnte man diese Behausungen beim besten Willen nicht mehr nennen. Sie waren klein und windschief, bestanden nur aus Blech, aus Tonnen, die aufgeschnitten und auseinandergewalzt worden waren. Hier gab es weder fließendes Wasser noch Strom.
Trotz der drückenden Hitze fröstelte Ruth. Sie war so viel Schmutz und Elend nicht gewohnt und fühlte sich zunehmend unwohl. Horatio schien dies jedoch nicht zu merken. Ohne noch einmal innezuhalten, führte er sie weiter durch das Dickicht der
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