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Das Feuer der Wüste

Titel: Das Feuer der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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sammeln, die Gedanken zu ordnen, die in ihrem Kopf umherschwirrten. »Meine Großeltern sind nach der Geburt meiner Mutter verschwunden«, sagte sie dann ruhiger. »Das muss 1903 gewesen sein oder im Jahr darauf.«
    Horatio lächelte über ihren Eifer, hob aber abwehrend die Hände. »Freuen Sie sich nicht zu früh. Die AZ wurde erst 1916 gegründet.« Er sah sie an und seufzte. »Können Sie mir sagen, warum ausgerechnet ich einer Weißen helfe, ihre Familiengeschichte zu erforschen?«
    Ruth versuchte ein schiefes Lächeln. »Weil Sie Historiker sind? Und weil die Weißen in Südwest auch Bestandteil Ihrer Geschichte sind?«
    »Wahrscheinlich. Vielleicht«, erwiderte er und sah Ruth so eindringlich an, dass ihr umgehend ihr ungekämmtes Haar und die zerdrückte Bluse in den Sinn kamen.
    Die Redaktion und das Archiv der Allgemeinen Zeitung residierten seit Gründung der Zeitung im Zentrum der Hauptstadt, in der Stübelstraße. Auf dem Weg dorthin erzählte Horatio der zwischen Aufregung, Angst und Vorfreude hin- und hergerissenen Ruth, dass die Zeitung fünfmal in der Woche in einer Auflage von rund fünftausend Exemplaren erschien. »Wohl jeder weiße deutschstämmige Haushalt in ganz Südwest bezieht damit seine Informationen aus der AZ«, schloss er seine Ausführungen.
    Ruth wusste das alles oder hatte es zumindest schon gehört, und im Augenblick war ihr die Geschichte der Zeitung herzlich egal. Wenn die AZ auf Salden’s Hill gerade griffbereit lag, hatte sie bisweilen darin herumgeblättert, doch die vielen Familienanzeigen hatten sie einfach nicht interessiert, ebenso wenig wie das, was aus Deutschland berichtet wurde. Was kümmerte sie dieses Land in Europa? War es für sie von irgendeiner Bedeutung, wer dort gerade Bundeskanzler war und was der entschied? Nein.
    Sie betrachtete Horatio von der Seite, beobachtete, wie seine Füße zu langen Schritten ausholten, die Arme im Takt dazu schwangen. Er hielt sich sehr gerade, nur den Kopf hatte er etwas vorgestreckt, als könne er so Gefahren wittern. Es war nicht einfach, mit ihm Schritt zu halten. Als Ruth in einer Schaufensterscheibe einen Blick auf Horatio und sich erhaschte, hätte sie dennoch beinahe gelacht: Ein langer dünner Schwarzer mit Haaren wie ein Karakulschaf hastete neben einer kleinen fülligen Weißen, deren Kopf wie ein wild beblätterter, vom Sturm zerzauster Akazienbaum wirkte, durch die Stadt.
    War die Halle der Farmersbank prächtig und furchteinflößend gewesen, wirkte die Redaktion der AZ eher gemütlich. Der Fußboden war abgetreten, und es roch nach frisch gebrühtem Kaffee. Leger gekleidete Menschen liefen durcheinander. Einer lachte, ein anderer fluchte, ein dritter sprach aufgeregt in einen Telefonhörer.
    Ein junges Mädchen kam auf die beiden zu. »Guten Tag, wie kann ich euch helfen?«
    Ruth schluckte. Schon wieder fühlte sie sich fremd. Schon wieder spürte sie nur allzu deutlich, dass sie vom Land kam, von der Stadt keine Ahnung hatte. Sie betrachtete die junge Frau, die ein schwarz-weiß gepunktetes Sommerkleid trug und ihr Haar mit einem weißen Haarband zusammenhielt, und war sich ihrer praktischen, aber doch wenig schicken Kleidung schmerzlich bewusst. Die junge Frau verströmte einen zarten Veilchenduft, ihre Lippen waren leicht geschminkt, die Augen mit einem schwarzen Strich betont, die Fingernägel rosa lackiert. Während Ruth schon wieder durchgeschwitzt war, wirkte die junge Frau, als käme sie gerade aus dem Bad.
    Horatio lächelte sie an. »Wir würden gern noch einmal ins Archiv«, sagte er.
    »Ach ja, die Wissenschaft. Haben Sie beim letzten Mal gefunden, was Sie gesucht haben?«
    Wie leicht sich diese junge Frau tat, einfach so mit einem Mann zu sprechen, den sie kaum kannte! Ruth fühlte sich auf der Stelle noch unbedeutender und mauerblumiger als ohnehin.
    Horatio riss sie durch eine sanfte Berührung aus ihren Gedanken. »Kommen Sie, wir haben einiges an Arbeit vor uns.«
    Ruth folgte ihm in einen stillen Saal, in dem mehrere Tische mit Arbeitsleuchten standen. In den Regalen, die sich um den ganzen Raum zogen, standen die gebundenen Jahrgänge der AZ.
    »Wie wollen wir vorgehen?«, fragte Ruth und schluckte. Ihr Blick huschte an den Regalen entlang. Wie in aller Welt sollte sie in dieser Unmenge von Papier Informationen über ihre Großeltern finden? Hilflos wies sie mit der Hand auf die Regale an der Wand. »So viele Zeitungen …«
    »Wann wurde Ihre Mutter noch einmal geboren?«, fragte Horatio. Er wirkte

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