Das Feuer der Wüste
alleingelassen, als sie in Ihren Armen starb. Wir sind Ihnen etwas schuldig.«
»Unfug. Niemand ist mir etwas schuldig! Jeder hätte an meiner Stelle dasselbe getan.« Ruth sah in die Flammen. Sie griff nach ihrem Feuerstein, wartete auf die Vision, auf das Bild des gefräßigen Feuers, aber nichts geschah. Alles blieb ruhig und friedlich. Nur in der Ferne kläfften ein paar wilde Hunde den Mond an.
Während Horatio sich bald darauf in seine Decke rollte, Ruth eine gute Nacht wünschte und die Augen schloss, blieb sie noch ein wenig am Feuer sitzen. Sie würde nach Lüderitz fahren. Erst in dem Moment, als sie die Worte vorhin ausgesprochen hatte, war ihr Entschluss gefallen. Sie musste nach Lüderitz, wenn sie das Geheimnis ihrer Großeltern lösen wollte. Erst, wer die Vergangenheit kennt, kann an der Zukunft bauen. Ians oft geäußertes Lebensmotto erhielt auf einmal eine neue Bedeutung. Warum in aller Welt aber wollte Horatio sie begleiten?
Ich bin ein Nama, hörte sie ihn sagen. Und eine andere Stimme ergänze: Das Feuer der Wüste ist die Seele der Namas. Ihre Familie hat uns die Seele gestohlen.
Wollte Horatio sie begleiten, um das »Feuer der Wüste« zu finden? War er aufgebrochen, um die Seele der Namas zu retten?
Ruth erwachte beim Morgengrauen. Horatio war nicht da. Sie sah sich suchend um und entdeckte ihn schließlich ein Stück weiter weg, wo er Holz für das Feuer sammelte. Ruth reckte und streckte sich, dann ging sie zum Bach, warf sich zwei Hände voll Wasser ins Gesicht und füllte den Kessel.
Als sie zum Feuer zurückkam, starrte Horatio sie mit ein paar trockenen Ästen in der Hand an.
»Was ist mit Ihnen? Ist Ihnen der Gott des Feuers erschienen?« Sie lachte, und es klang böse. Sofort entschuldigte sie sich: »Tut mir leid, ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen.«
Horatio starrte weiter. »Es sieht aus, als käme die Sonne direkt aus Ihrem Inneren«, sagte er. Sein Gesicht zeigte etwas, das Ruth sich selbst nur als »heilige Andacht« umschreiben konnte. »Es sieht so aus, als stünden Ihre Haare in Flammen.«
Ruth lächelte schief. »Die Sprüche kenne ich«, erklärte sie. »Als ich in Gobabis zur Schule gegangen bin, haben die anderen Kinder mich immer so gerufen: ›Rotschopf, Rotschopf! Die Esse brennt!‹«
»Nein, nein, so meine ich das nicht.« Horatio hob beschwichtigend die Hände, und Ruth begriff, dass er ihr ein Kompliment hatte machen wollen. Sie spürte, dass sie rot wurde, suchte in den Taschen ihres Overalls nach einem Gummi und band wortlos ihr Haar zusammen.
Eine Viertelstunde später saßen sie am Feuer und hielten Blechtassen mit dampfendem Kaffee in den Händen. Ruth atmete tief ein und aus. Sie genoss die Stille, die nicht wirklich still war, sondern vom Gesang der Vögel erfüllt. Sie nahm das Aroma des Veldes in sich auf, roch den Staub, die aufsteigende Hitze des jungen Tages und den Duft der Pflanzen. Und sie sah das Strahlen des Himmels über sich, der sich von einem dunklen Violett in ein zartes Rosa verfärbte, ehe die aufgehende Sonne alles in ein kräftiges Orange tönte. »Es ist schön hier, nicht wahr? Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, in der Stadt zu leben. Ich liebe das Veld, das Land, seine Tiere.«
»Ich liebe dieses Land ebenfalls. Es ist unseres.«
Ruth fuhr herum. »Fangen Sie schon wieder mit dem Nama- und Hereroaufstand an?«
»Nein«, erwiderte Horatio. »Ich wollte damit sagen, dass Ihr Land auch mein Land ist. Weil wir es lieben. Nur deshalb.«
Ruth war versöhnt. »Erzählen Sie mir etwas von dem Aufstand?«, fragte sie. »Von dem, was 1904 geschah?«
Horatio lachte. »Es ist noch zu früh für Politik und zu früh für Streit. Soll ich Ihnen stattdessen nicht lieber erzählen, wie es kam, dass es weiße und schwarze Menschen gibt? Wollen Sie wissen, warum die Namas die Weißen ›weiße Geister‹ nennen? Und warum die Weißen Angst davor haben, so genannt zu werden?«
Ruth dachte einen Augenblick lang nach. Sie hatte nie Zeit gehabt, sich um die Riten und Bräuche ihres Landes zu kümmern. Jetzt aber hatte sie Zeit. Die Farm – wenn es denn überhaupt noch ihre Farm war – musste im Moment ohnehin ohne sie auskommen. Santo würde sich um alles kümmern; er wusste Bescheid, und Ruth vertraute ihm. »Also gut, reden Sie«, bat Ruth und goss sich noch einen Becher Kaffee ein.
Horatio lehnte sich gegen einen Baumstamm. »Gottvater hatte zwei Söhne«, erzählte er mit ruhiger Stimme, »Manicongo und Zonga. Er liebte
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