Das Feuer der Wüste
Hand. Sie war ein bisschen beschwipst, vom Champagner und von Henrys Küssen, und kicherte, als sie die Standuhr im Frühstückszimmer zwei Uhr schlagen hörte. So lange war sie noch nie aus gewesen.
Sie schloss ihr Zimmer auf, schlug die Tür hinter sich mit der Ferse zu, ließ Schal und Schuhe auf den Boden fallen und sich selbst auf das Bett.
»Hach!«, schwärmte sie und träumte mit offenen Augen. »Hach!« Noch nie war sie so aufgewühlt gewesen, so unbeschwert, so übermütig und fröhlich. Am liebsten wäre sie draußen auf den Nussbaum geklettert und hätte dem Mond ein Lied gesungen.
Es klopfte. Für einen Augenblick glaubte Ruth, Henry sei gekommen. Henry! Ihr Herz machte einen erschrockenen Satz, um dann wie ein Wildpferd in ihrer Brust herumzugaloppieren.
»Ruth, machen Sie auf! Es ist wichtig!« Die Stimme gehörte nicht Henry, sondern Horatio.
Ruths Herz stoppte mitten im Galopp und fiel in einen enttäuschten Trab zurück. »Was ist?«, fragte sie grimmig.
»Machen Sie auf, ich muss mit Ihnen reden.«
Widerwillig öffnete Ruth die Tür. Horatio schlüpfte hinein und hielt inne, als er Ruth im grünen Kleid sah.
»Was glotzen Sie so?«, fragte sie ärgerlich.
»Ich … ähem … Nichts.«
»Und? Was ist?«
»Ich wollte nur fragen, ob Sie auf dem Markt gewesen sind.«
»In diesem Kleid?« Ruth drehte sich übermütig vor Horatio hin und her.
»Nein, wohl eher nicht.«
»Sie haben es erraten. Ich war überall, nur nicht auf dem Markt. Was sollte ich da auch?«
»Haben Sie vergessen, was ich Ihnen erzählt habe? Der schwarze Junge, die Kette … Wissen Sie nicht mehr?«
Ruth zog die Stirn kraus. Doch, da war etwas gewesen. Aber was? Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern und schloss die Augen. Plötzlich war ihr ein wenig schwindelig. Sie spürte, wie Horatio sie bei den Schultern packte und sanft schüttelte. »Hey, Ruth, schlafen Sie jetzt nicht ein. Auf dem Markt war ein Namajunge. Er trug eine Kette um den Hals. Eine Gemme hing daran. Eine Gemme mit Ihrem Bildnis.«
»Was?« Ruth schüttelte Horatio ab. »Ich habe Champagner getrunken, und Sie sind besoffen?«, fragte sie belustigt. »Was reden Sie da? Wie kann ein Junge, den ich nie gesehen habe, mein Bildnis um den Hals tragen?«
»Verstehen Sie denn nicht, Ruth? Es muss nicht Ihr Bildnis sein, es kann ebenso gut das Abbild Ihrer Großmutter gewesen sein.«
Jetzt war Ruth wach. Sie schüttelte sich, bat Horatio, alles, was er gesagt hatte, zu wiederholen.
»Sie waren wirklich nicht auf dem Markt?«, fragte er ungläubig.
»Nein«, bekannte Ruth zerknirscht.
»Wollen wir hoffen, dass er noch da ist, wenn der Markt in ein paar Stunden wieder öffnet. Sie kommen doch mit, oder haben Sie schon wieder etwas anderes vor?«
»Wie? Nein.« Ruth schüttelte den Kopf. Sie tastete nach dem Schrank, um sich festzuhalten. Das Zimmer drehte sich auf einmal um sie. Sie hörte sich selbst wie durch Watte sagen: »Ich glaube, mir wird schlecht.«
»Mama Elo, mach das Fenster zu, die Vögel brüllen so laut! Und die Sonne, sie sticht mir in die Augen. Mach das alles weg!« Ruth stöhnte, legte eine Hand auf ihre schmerzende Stirn und wollte sich das Kissen über den Kopf ziehen. Dann hörte sie jemanden leise lachen. Sie stutzte. Das Lachen kam nicht von Mama Elo.
Vorsichtig öffnete sie ein Auge und erblickte eine geblümte Tapete, die ihr vage bekannt vorkam, aber gewiss nicht zu ihrem Zimmer auf Salden’s Hill gehörte. Behutsam, weil schon die geringste Bewegung schmerzte, öffnete sie auch das andere Auge und sah einen offenen Schrank, in dessen Innentür ein Spiegel angebracht war. »Wo bin ich?«, fragte sie und drehte sich auf den Rücken, um gleich darauf zu stöhnen: »Oh, verdammt, mein Kopf!«
»Hier, trinken Sie das!« Ein Glas Wasser, gehalten von einer schwarzen Hand, erschien in ihrem Blickfeld.
Mühsam richtete sie sich auf und stürzte das Wasser hinunter.
»Hier, und jetzt das!« Die schwarze Hand hielt ihr zwei Tabletten hin.
Ruth nahm sie und spülte sie mit dem Rest Wasser nach.
»Aspirin«, sagte die Stimme. »Gut gegen Kater.«
Ruth blinzelte. An ihrem Bettrand stand ein schwarzer Mann, der langsam die Konturen von Horatio annahm. »Wo sind wir hier?«, fragte sie. »Was ist passiert?«
»Wir sind in Lüderitz, eigentlich auf der Suche nach Ihrer Großmutter und dem ›Feuer der Wüste‹. Sie haben aber gestern Abend etwas ganz anderes gefunden, scheint mir. Etwas, das womöglich nur mit
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