Das Feuer der Wüste
man die verfluchten Austern? Sie sah sich schon hier sitzen und so lange ungeschickt an einer Auster herumfuhrwerken, bis ihr diese ihr ins Dekolleté flutschte. Sie musste kichern.
»Warum lachen Sie?«
»Ich habe noch nie Austern gegessen.«
»Dann wird es aber Zeit.« Henry Kramer bestellte für jeden ein Dutzend Austern als Vorspeise.
Während sie auf das Essen warteten, fragte Ruth, was sie fragen wollte, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte: »Warum interessieren Sie sich für mich? Ich meine, ein Mann aus der Stadt, wahrscheinlich wohlhabend und weltgewandt. Was will so einer mit einem Landei wie mir, unter dessen Fingernägeln wahrscheinlich noch ein bisschen Schafsdreck hängt?«
Henry Kramer stützte das Kinn in die Hand und sah Ruth lange an. »Können Sie sich das nicht selbst denken?«, fragte er schließlich.
Ruth schüttelte den Kopf.
»In der Stadt ist alles künstlich: die Lichter, der Geruch, die Frauen. Die meisten von ihnen wissen nicht mehr, wie man richtig lacht oder weint. Wenn sie weinen, dann immer nur um sich. Wenn sie reden, dann immer nur, um zu gefallen. Und wenn sie lachen, dann scheppert es wie bei einem kaputten Auto. Sie gehen nicht im Meer schwimmen, weil es ihnen die Frisur ruiniert. Sie gehen nicht wandern, weil sie dafür nicht die richtigen Schuhe haben und Blasen kriegen könnten. Sie fahren nicht mit dem Fahrrad, aus Angst, stramme Waden zu bekommen. Sie gehen nicht fischen, weil sie nicht schweigen können und zudem befürchten, nach Fisch und Tang zu riechen. Für alles, was geschieht, für alles, was sie tun, brauchen sie eine Gebrauchsanweisung. Sie haben verlernt, sie selbst zu sein, trauen den blöden Zeitschriften mehr als ihren Instinkten.«
»Oh!« Mehr fiel Ruth dazu nicht ein.
»Sie sind anders, Ruth. An Ihnen ist alles echt. Wenn Sie lachen, dann darum, weil Sie fröhlich sind, weil etwas Sie erheitert. Wenn Sie in diesen Schuhen wandern gehen müssten, so würden Sie sie wahrscheinlich nach den ersten Metern von sich werfen und barfuß weiterlaufen. Und ich wette, Sie haben schon oft im nächtlichen Fluss gebadet, ohne auf Ihr Haar zu achten. Wahrscheinlich trugen Sie dabei nicht einmal einen Badeanzug.«
Ruth wurde rot. Er hatte recht; sie besaß gar keinen Badeanzug. Und sie hatte schon oft nackt im Fluss gebadet. Trotzdem konnte sie sich ihn einfach nicht auf einer Farm vorstellen. Mit seinem Auto, den teuren Anzügen und den sauberen Fingernägeln gehörte er einfach nicht aufs Land.
Als der Kellner die Austern brachte, starrte Ruth ein wenig hilflos und gleichzeitig amüsiert auf ihren Teller, der mit seltsamen graubraunschwarzen Gebilden und Zitronenscheiben auf einer dicken Eisschicht übersät war. Vorsichtig tippte sie mit dem Finger gegen eines der Gebilde. »Das also sind Austern.«
»Ja, frisch von der Küste. Tagesfrisch. Sie werden von Lüderitz aus in die ganze Welt exportiert. Und wissen Sie auch, warum? Der Benguelastrom macht, dass die Austern hier schneller reifen als in Europa. Schon nach neun Monaten sind sie verzehrfertig. Sie gelten als die besten Austern der Welt. In Paris zum Beispiel bekommt man sie nur in den teuersten Restaurants. Und in London gibt es ein berühmtes Kaufhaus, in dem man sie erwerben kann. Ebenso in Berlin. Sie haben sicher schon vom KaDeWe gehört.«
Ruth schüttelte den Kopf. »Kaufhäuser interessieren mich nicht besonders. Und schon gar nicht solche, in denen ich nicht einkaufen kann. Was habe ich davon zu wissen, dass es irgendwo ein KaDeWe gibt? Was ist so besonders an den Austern? Sie sehen ziemlich unspektakulär aus.«
»Der Geschmack, Ruth. Es ist allein der einzigartige Geschmack. Nichts auf der Welt schmeckt ähnlich. Außerdem heißt es, Austern regen die Liebeslust an.«
Ruth runzelte die Stirn, nahm eine Auster in die Hand, träufelte Zitronensaft darüber, wie sie es am Nachbartisch gesehen hatte. »Und jetzt?«
»Jetzt führen Sie die Auster zum Mund und schlürfen sie aus.«
Ruth tat, was Kramer gesagt hatte, hob und schlürfte – und schüttelte sich.
»Was ist?«
»Ich glaube, diese hier war verdorben«, meinte Ruth.
Henry Kramer nahm die leere Austernschale und roch daran.
»Sie riecht köstlich!«
»Kann sein, aber sie schmeckt wie das Dreckwasser aus dem Hafenbecken.«
Da lachte Henry Kramer, lachte so, dass er den Kopf in den Nacken warf. Es dauerte eine kleine Weile, in der Ruth dumm dasaß, bis er sich wieder beruhigt hatte. »Nicht die Austern, nein, Sie sind
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