Das Feuer der Wüste
Alkohol zu ertragen ist.«
»Ach, ja.« Langsam kehrten Ruths Erinnerungen zurück. Henry Kramer fiel ihr ein. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich habe Austern gegessen«, flüsterte sie beglückt. »Und Walzer getanzt.«
»Prima«, sagte Horatio trocken. »Aber jetzt steht etwas anderes auf dem Programm. Los, stehen Sie auf. Wir haben heute viel vor. Zuerst gehen wir auf den Markt.«
»Auf den Markt? War da was?«
»Allerdings. Ein Junge, der eine Kette mit Ihrem Bildnis um den Hals trägt.«
Sofort kam Leben in Ruth. Sie richtete sich kerzengerade auf. »Stimmt«, sagte sie, stieß die Decke von sich und wollte sich schon aus dem Bett schwingen, als sie merkte, dass sie nur Unterwäsche trug. »Drehen Sie sich gefälligst um«, blaffte sie.
Horatio lachte und tat, wie ihm befohlen. »Gern, aber raten Sie mal, wer Sie gestern Nacht ausgezogen und ins Bett gelegt hat.«
»Oh!« Ruth riss die Decke zu sich und presste sie gegen ihre Brust. »Aber das gibt Ihnen noch lange kein Recht, mich anzustarren, wenn ich gerade nicht hilflos bin. Also los, raus mit Ihnen. Ich bin in zehn Minuten unten beim Frühstück.«
»Wie Sie wollen. Ich nehme an, Sie bevorzugen heute große Mengen an Kaffee und Wasser.«
»Raus!«, rief Ruth und warf zur Bekräftigung ihrer Worte noch ein Kissen in Richtung Tür.
Eine Viertelstunde später betrat Ruth mit nassen Haaren den Frühstückssaal.
»Sie sind ganz schön blass«, teilte ihr Horatio mit.
»Das kann man von Ihnen weiß Gott nicht behaupten«, entgegnete Ruth schlagfertig. Sie holte sich zwei Scheiben Toast und Rührei, ließ beides aber nach ein paar Bissen stehen.
»Schmeckt’s nicht?«, erkundigte sich Horatio scheinheilig.
Ruth schob die Unterlippe vor. »Ich habe gestern Abend so gut gegessen, dass ich mir heute nicht mit diesem Zeug den guten Geschmack verderben will.«
»Ich wusste gar nicht, dass das Dreckwasser im Hafenbecken so lecker war.« Horatio kicherte. »Sie reden im Schlaf, Ruth. Hat Ihnen das noch niemand gesagt?«
Ruth schob den Teller mit einem Ruck von sich. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe die ganze Nacht über Sie gewacht.«
»Heißt das etwa, Sie waren die ganze Nacht in meinem Zimmer und haben mir beim Schlafen zugesehen? Unverschämtheit!«
»Ja, habe ich.« Horatios Stimme war laut geworden. »Ich konnte Sie doch nicht allein lassen. Am Ende hätten Sie sich im Schlaf erbrochen und wären daran erstickt. Aber eins können Sie mir glauben: Ein Vergnügen war das wahrhaftig nicht.«
Ruth senkte beschämt den Kopf, betrachtete die weiß-gelben Flocken des Rühreis. »Habe ich sonst noch etwas gesagt?«
»Nichts von Belang. Geschwätz halt wie bei allen jungen Gänsen.«
Ruth hatte sich eigentlich bei Horatio bedanken wollen, aber die Bemerkung über die Gänse machte sie wütend. »Sie hätten ja nicht hinhören müssen, wenn Sie das so gestört hat.«
»Es hat mich auch so nicht gestört.«
»Na also.«
»Ja, na also.«
Schweigend ließ Ruth sich noch einmal Kaffee nachschenken, Horatio trank – ebenso schweigend und in Ruths Augen aufreizend langsam – ein Glas Milch nach dem anderen.
Ungeduldig trommelte Ruth mit ihren Fingerspitzen auf der Tischplatte herum. »Jetzt spielen Sie nicht die beleidigte Leberwurst«, brach es aus ihr schließlich heraus. »Reden Sie endlich! Was war das für ein Junge? Wo war er her? Woher hatte er die Kette? Warum trug er sie um den Hals?«
Horatio stellte sein Glas ab. »Das weiß ich alles nicht, Ruth. Ich bin zu ihm hingegangen und habe ihn gefragt, woher er die Kette hat. Aber er hat nicht geantwortet, sondern in seinen Sachen herumsortiert, als wäre ich nicht da. Ich hatte den Eindruck, er hat Angst.«
»Na prima«, stellte Ruth fest. »Jetzt können wir nur hoffen, dass Sie ihm nicht so große Angst eingejagt haben, dass er heute gleich zu Hause geblieben ist.« Sie schüttelte genervt den Kopf. Henry Kramer wäre sicher nicht so ungeschickt gewesen. Wahrscheinlich hätte er die Kette, ach was!, den ganzen Jungen samt Kette gekauft und ihr auf einem silbernen Tablett dargeboten.
»Jetzt hören Sie mal«, brauste Horatio auf. »Ich habe gestern immerhin gearbeitet, habe Erkundigungen eingezogen und Ausschau gehalten, während Sie sich mit fremden Männern amüsiert und in feinen Lokalen herumgehockt haben.«
Ruth wusste, dass er recht hatte, und hatte sogleich ein schlechtes Gewissen. Aber es war doch so schön, dachte sie. Habe ich nicht auch einmal ein Anrecht auf ein
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