Das Feuer der Wüste
Junge presste die Lippen zusammen und schüttelte entschlossen den Kopf. »Niemand darf sagen, wo die weiße Frau ist. Niemand darf es wissen«, stieß er hervor.
»Warum nicht?«, fragte Ruth.
»Weil die weiße Frau von den Ahnen kommt. Die Ahnen haben die weiße Frau geschickt, damit sie die Seele der Nama hütet.«
»Die Seele der Nama? Du meinst den Stein? Den Diamanten? Das ›Feuer der Wüste‹?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nichts von einem Stein. Niemand hat die Seele der Nama je gesehen. Die Seele ist unsichtbar. Nur die weiße Frau kann sie sehen. Sie weiß alles, was geschieht. Sie weiß sogar, was jeder heimlich denkt.«
»Hast du die weiße Frau schon einmal mit eigenen Augen gesehen?«, fragte Ruth, auf einmal ganz sanft und mit einer Stimme, mit der sie sonst mit ihren Karakullämmern sprach.
Der Junge nickte. »Abends, wenn es dunkel ist, kann man die weiße Frau sehen. Dann kommt sie aus ihrer Hütte. Sie darf nicht in die Sonne, denn die würde sie verbrennen. Deshalb kann man sie nur nachts sehen und mit ihr reden.«
Ruth ging in die Knie, um dem Jungen in die Augen blicken zu können, doch der Junge wandte den Blick ab. »Hast du schon einmal mit der weißen Frau gesprochen?«, fragte sie.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Aber sie hat mit mir gesprochen. Schon oft.«
»Was hat sie zu dir gesagt?«
»Sie fragt mich manchmal, ob es mir gut geht. Und ich nicke dann.«
»Und sonst?«
»Sonst sagt sie nichts zu mir.«
Ruth seufzte. »Muss man dir denn jedes Wort aus der Nase ziehen?«
Der Junge schrak zurück, fasste sich an die Nase.
»Nein, nein, ich will nichts von deiner Nase! Man sagt das nur so, wenn einer wenig redet. Was hat sie zu den anderen Kindern gesagt?«
»Einmal, als meine Schwester noch ganz klein war, da hat sie sie auf den Arm genommen und auf die geschlossenen Lider geküsst. Meine Mutter stand daneben. ›Wie soll sie heißen?‹, hat meine Mutter die weiße Frau gefragt. Und die weiße Frau hat gesagt, was sie immer sagt, wenn die Frauen sie fragen.«
»Was hat sie denn gesagt, die weiße Frau?«
Der Junge schloss die Augen und hob den Zeigefinger ans Kinn, als müsse er scharf nachdenken. »Sie hat gesagt, alle Mädchen sollten Rose heißen.«
Ruth zuckte zusammen und sah zu Horatio hinüber, der hinter dem Jungen stand und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Wo ist die weiße Frau jetzt?« Ruth bemühte sich, ihre Aufregung zu unterdrücken. Das Herz schlug ihr bis zum Halse.
»In ihrer Hütte. Die Sonne scheint doch.«
»Und wo steht diese Hütte?«
»Da, wo ich wohne.«
Ruth musste an sich halten, um nicht die Geduld zu verlieren. »Und wo wohnst du?«
Der Junge schaute nach dem Stand der Sonne, dann zeigte er in eine Richtung. »Dort wohne ich.«
»Wie kommt man da hin?«
»Zu Fuß. Aber man muss viele Tage laufen, ehe man die Stadt auf dem Hügel sieht.«
»Und was siehst du unterwegs?«
»Das Meer«, sagte der Junge, »gleich hinter dem Sperrgebiet.«
»Kann sein, er meint die Hottentotsbai«, sagte Horatio.
Der Junge sah ihn an und nickte eifrig. »Ja, so sagen die anderen. Dort, an der Hottentotsbai muss ich nach rechts abbiegen.«
»Ins Veld? Hinein in die Namibwüste?«
»Natürlich in die Wüste, wohin denn sonst?« Der Junge sah Ruth verwundert an. »Ich muss mich so drehen, dass ich die Awasiberge in der Ferne sehen kann, und auf sie zu laufen. Wenn die Umrisse deutlich werden, kommt bald eine Wasserstelle. Und dann ist es nicht mehr weit.«
»Wie lange brauchst du für den Weg?«
»Wenn alles gutgeht, zwei Tage. Ich übernachte bei Verwandten in der Hottentotsbai. Am nächsten Tag laufe ich auf den Hügel zu. Dann verkaufe ich die Sachen, die meine Leute geschnitzt haben, in der Stadt und gehe wieder zurück nach Hause.«
»Ganz allein?«
»Nein, man findet immer jemanden, der eine Zeitlang denselben Weg hat. Außerdem bin ich schon groß.«
»Natürlich.« Ruth nickte und schluckte die Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge gelegen hatte. Du bist ein tapferer kleiner Junge, dachte sie.
»Kriege ich jetzt mein Geschenk?«, fragte der Junge.
»Aber ja, was willst du denn? Ein Auto oder vielleicht einen Ball?«
Der Junge deutete auf einen Stand, der ein paar Meter entfernt war, dann winkte er Horatio und Ruth, ihm zu folgen. Dort angelangt deutete er auf eine knallgrüne Plastiksonnenbrille, deren Bügel mit silbernen Plastikschmetterlingen verziert waren.
»Die da.«
»Eine
Weitere Kostenlose Bücher