Das Feuer des Daemons
im Mutterleib, erfüllt von dem Potenzial, unbegrenzten Möglichkeiten das Leben zu schenken.
Der Orakelmond stand kurz bevor, entweder in dieser oder der kommenden Nacht. Grace spürte sein Herannahen, ganz besonders hier in der Dunkelheit. Es war wie eine Zusammenkunft, bei der alle Zeiten, die Vergangenheit und alle möglichen Formen der Zukunft zueinanderfanden.
Man hatte ihr beigebracht, dass sie nur in den Tiefen der Erde mit ihrer Kraft in Kontakt treten konnte, und trotzdem war sie bei Tageslicht zu ihr gekommen – und das nicht nur einmal. Inzwischen hatte Grace sie mehrmals zu sich gerufen.
Außerdem hatte man ihr gesagt, das Orakel könne die Kraft nicht für sich selbst, sondern nur für andere anrufen. Und trotzdem hatte sie den Geist der Schlangenfrau gerufen und mit ihm gesprochen.
Was von dem, was sie gelernt hatte, war sonst noch falsch oder zumindest äußerst unvollständig?
Jedes Orakel bringt einen anderen Aspekt der Kraft zum Vorschein,
hatte Isalynn gesagt.
Sie werden Ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten mit einbringen.
Und die wären? Sie wünschte, sie könnte ihr zukünftiges Ich um Rat fragen.
Sie wickelte die Maske aus dem Tuch und hielt sie sich vors Gesicht, als wollte sie selbst das Orakel befragen. Was war es für ein Gefühl, der Maske gegenüberzustehen? Diesmal brauchte sie die Kraft kaum anzurühren, bevor sie – bereitwilliger denn je – zu ihr kam.
Es war ein gutes Gefühl, die Kraft in der Dunkelheit zu spüren. Sie füllte Grace voll und ganz aus, um sich dann wie ein endloses, verzaubertes Meer in die Höhle zu ergießen. In diesem Meer spürte Grace Tausende Funken, wie das weit entfernte Glitzern von Mondlicht auf dem Wasser, und jeder dieser Funken war ein Geist. Sie suchte nach Geistern, die sie kannte, nach Petra, ihrer Großmutter oder der Schlangenfrau, doch sie konnte keinen von ihnen entdecken.
Normalerweise stellten sich Visionen dann ein, wenn das Orakel die Kraft anrief und sich dabei auf den Befrager fokussierte. Cuelebre hatte ein Inferno an magischer Energie besessen, vielleicht war das Orakel von dieser starken Energie angezogen worden. Die Schlangenfrau war ein ungewöhnlicher Geist gewesen, eng verbunden mit der Orakelkraft und mit Grace. Um jetzt eine konkrete Vision zu bekommen, hätte Grace einen stärkeren äußeren Fokus benötigt. Enttäuscht ließ sie das dunkle Meer los. Während es sich zurückzog, wickelte Grace die Maske wieder ein.
Dann wehte eine andere magische Energie in den Tunnel, um ihr in der Dunkelheit Gesellschaft zu leisten. Es war ein Dschinn, aber dieser war anders als alle anderen, denen Grace bisher begegnet war. Seine Gegenwart war schroff und hatte messerscharfe Kanten. Er strahlte eine Uneinigkeit aus, die in Grace’ Bewusstsein schnitt. Sie hielt ganz still und dachte angestrengt nach.
Dann schaltete sie die Taschenlampe ein.
Vor ihr stand die Gestalt einer hochgewachsenen, schwarz gekleideten Frau. Im Körperbau der Dschinniya lag eine tödliche Anmut. Ihr elfenbeinfarbenes Gesicht war majestätisch und leidenschaftlich, die weibliche Version eines attraktiven, unmenschlichen Gesichts, das Grace bereits allzu vertraut war. Tiefrotes Haar floss ihr wie Blut über die Schultern, und ihre Augen waren zwei schwarze, kristallklare Sterne.
In die vollkommene Stille der Höhle hinein sagte Grace: »Hallo, Phaedra.«
An diesem Samstag sollte Khalils Plänen nichts in die Quere kommen.
Dschinn waren mit einer unheilbaren Neugier geschlagen, was oft ihre größte Schwäche und manchmal ihr Verderben war.
Khalil bildete da keine Ausnahme. Stand eine Tür offen, spähte er hindurch. War sie geschlossen, war das Spähen umso spannender. War sie verriegelt, tja … Solche Dinge unterlagen einer natürlichen Steigerung.
Einige Teile passten nicht zusammen, und das gefiel ihm nicht. Der uralte Gesellschaftsvertrag zwischen dem Orakel und dem Befrager, der PayPal-Link auf der Internetseite, der insgesamt erbärmliche Zustand von Grace’ Haus, die fehlenden Reparaturen; dass sie keine erstklassige medizinische Versorgung bekommen hatte, als sie sie am dringendsten brauchte; die unbezahlten Rechnungen und ein Bewerbungsanschreiben, obwohl sie bereits so viel zu tun hatte, so vielen Verpflichtungen nachkommen musste und so allein war.
Er forderte einen seiner zahlreichen ausstehenden Gefallen ein, diesmal von einem Dschinn mit der speziellen Begabung, Informationen aus dem Internet zu beziehen. Die Information, die Khalil
Weitere Kostenlose Bücher