Das Feuer von Innen
schieben und ihn festhalten können.«
Er befahl mir, mich auf einem flachen Stein in der Mitte des sanften Wasserlaufs hinzuhocken, und hieß mich den Spiegel mit beiden Händen fassen, direkt an den Ecken der einen Seite. Er hockte sich mir gegenüber und faßte den Spiegel auf dieselbe Weise, wie ich es tat. Wir senkten den Spiegel hinab und hielten ihn dann, die Arme beinah bis zu den Ellbogen eintauchend, ins Wasser.
Er befahl mir, mich von allen Gedanken freizumachen und die Fläche des Spiegels anzustarren. Der Trick dabei wäre, so wiederholte er immer wieder, überhaupt nichts zu denken. Ich blickte aufmerksam in den Spiegel. Die sachte Strömung verzerrte ganz leicht das Spiegelbild von Don Juans und meinem Gesicht - oder umgekehrt, die Spiegelung von Don Juans Gesicht und meinem wurde in der sachten Strömung leicht verzerrt. Nachdem ich einige Minuten unverwandt in den Spiegel gestarrt hatte, schien es mir, als würde das Spiegelbild seines und meines Gesichts allmählich viel klarer. Und die Fläche des Spiegels wurde größer, bis sie beinah einen halben Quadratmeter maß. Die Strömung schien stillzustehen, und der Spiegel wirkte klar, als befände er sich über dem Wasser. Noch merkwürdiger war die Schärfe unserer Spiegelbilder. Es war, als sei mein Gesicht vergrößert, nicht nur im Format, sondern auch in der Tiefenschärfe. Ich konnte sogar die Poren in der Haut über meiner Stirn erkennen. Don Juan flüsterte mir leise zu, ich solle nicht in seine oder meine Augen starren, sondern meinen Blick umherwandern lassen, ohne ihn auf einen bestimmten Teil unserer Spiegelbilder zu richten.
»Blicke starr, aber ohne zu starren!« befahl er mir immer wieder in eindringlichem Flüsterton.
Ich tat, wie er mich geheißen, ohne daß ich aufhören konnte, über diesen scheinbaren Widerspruch nachzugrübeln. Im gleichen Moment wurde etwas von mir in diesem Spiegel eingefangen, und der Widerspruch machte auf einmal Sinn. »Es ist möglich, starr zu blicken, ohne zu starren«, dachte ich, und im selben Moment, als dieser Gedanke sich formulierte, tauchte ein weiterer Kopf neben Don Juans und meinem auf. Er befand sich an der unteren Seite des Spiegels, zu meiner Linken.
Ich zitterte am ganzen Körper. Don Juan flüsterte mir zu, ich solle Ruhe bewahren und keine Furcht oder Überraschung zeigen. Wieder befahl er mir, hinzublicken, ohne den Neuankömmling anzustarren. Es kostete mich eine unvorstellbare Anstrengung, nicht einen Aufschrei zu tun und den Spiegel loszulassen. Mein Körper zitterte vom Kopf bis zu den Zehen. Wieder befahl Don Juan mir flüsternd, mich zusammenzureißen. Immer wieder stieß er mich mit der Schulter an.
Allmählich bekam ich meine Furcht unter Kontrolle. Ich blickte auf den dritten Kopf und erkannte allmählich, daß es kein menschlicher Kopf und auch kein Tierkopf war. Tatsächlich war es überhaupt kein Kopf. Es war eine Gestalt, die keine innere Bewegung aufwies. Als mir dieser Gedanke in den Sinn kam, erkannte ich augenblicklich, daß ich dies nicht selbst gedacht hatte. Auch kam mir diese Erkenntnis nicht als Gedanke. Ich empfand einen Augenblick ungeheure Angst, und dann wurde mir etwas Unbegreifliches einsichtig. Die Gedanken waren eine Stimme in meinem Ohr! »Ich sehe«, schrie ich auf englisch, aber kein Ton wurde laut. »Ja, du siehst«, sagte die Stimme in meinem Ohr auf spanisch.
Ich spürte, ich war von einer Macht umschlossen, größer als ich selbst. Ich hatte keine Schmerzen, nicht einmal Angst. Ich empfand nichts. Ich wußte jenseits allen Zweifels, denn die Stimme sagte es mir, daß ich durch keinerlei Willens- oder Kraftanstrengung aus dem Griff dieser Macht ausbrechen konnte. Ich wußte, ich starb. Ganz automatisch hob ich die Augen, um Don Juan anzusehen, und in dem Moment, als unsere Blicke sich trafen, ließ die Kraft von mir ab. Ich war frei. Don Juan lächelte mir zu, als wisse er genau, was ich durchgemacht hatte. Dann erkannte ich, daß ich aufrecht stand. Don Juan hielt den Spiegel schräg und ließ das Wasser abtropfen. Schweigend gingen wir zum Haus zurück.
»Die alten Tolteken waren einfach fasziniert von ihren Entdeckungen«, sagte Don Juan.
»Ich kann verstehen, warum«, sagte ich. »Ich auch«, entgegnete Don Juan.
Die Macht, die mich eingehüllt hatte, war so stark gewesen, daß sie mich noch Stunden später unfähig machte, etwas zu sagen oder auch nur zu denken. Sie hatte mich, bei völligem Fehlen eigenen Willens, erfrieren lassen. Und
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