Das Finale
Zugegeben. Es gibt noch einen
weiteren Grund.«
»Und der wäre?«
»Vordergründig
scheint es, als würden wir uns gegenüberstehen.«
»Als Gegner?«,
fragte Frauke.
Dottore Carretta
schüttelte den Kopf. »Wir haben uns der gleichen Aufgabe verschrieben«, sagte
er mit seiner brüchig und müde klingenden Stimme. »Wir möchten das Recht walten
lassen.«
»Und warum
verteidigen Sie ausgerechnet die schlimmsten Straftäter?«
»Verdächtige«,
korrigierte er Frauke. »Erst nachdem das Gericht die Schuld festgestellt hat,
dürfen Sie von Tätern sprechen. Auch Beschuldigte haben ein Anrecht auf eine
angemessene Verteidigung. Wie oft kommt es vor, dass Justiz und
Strafverfolgungsbehörden im Übereifer am Ziel vorbeischießen. Dafür gibt es
Rechtsanwälte.«
»Trotzdem ist es
augenfällig, dass ausgerechnet Sie immer dann in Erscheinung treten, wenn wir
jemanden aus dem Umfeld der organisierten Kriminalität verhaftet haben.«
»Niemand ist ein
Universalgenie«, wich der Anwalt aus. »Auch Rechtsanwälte haben sich heute
spezialisiert.«
»Auf die Mafia?«
Dottore Carretta
lehnte sich zurück. Für einen Moment schloss er die Augen.
»Mafia!«, sagte er
so leise, dass Frauke es kaum verstand. »Wer spricht davon? Nur weil Sie es
sich in den Kopf gesetzt haben, auf Bürger Italiens Jagd zu machen, gibt es
noch keine Mafia.«
»Wie nennt sich die
Organisation, die Sie vertreten?«, erwiderte Frauke.
»Ich kenne keine
›Organisation‹. Sie jagen einem Phantom hinterher, das es nicht gibt. Zugegeben
macht sich Sorge unter meinen Landsleuten breit. Mit Ihrer Italien-Phobie
schaffen Sie Unruhe unter den vielen ehrbaren und fleißigen Italienern im
Lande. Vermuten Sie hinter jeder Pizzeria oder Eisdiele einen Hort des Bösen?
Ist dieses vorzügliche Restaurant in Ihren Augen auch verdächtig?«
»Mit Sicherheit
nicht«, sagte Frauke. »Und das gilt sicher auch für fast alle soliden durch
italienische Mitbürger geführten und betriebenen Einrichtungen. Nur dort, wo
Sie auftauchen, bin ich voller Argwohn. Warum?«
Dottore Carretta
breitete die Arme aus. »So empfinden Sie es im Übereifer. Lassen Sie uns eine
Übereinkunft erzielen. Ich verstehe, dass Sie Gesetzesbrechern nachstellen.
Billigen Sie mir aber zu, dass ich die Interessen meiner Mandaten vertrete.
Damit akzeptiere ich nicht jede Straftat. Nehmen Sie das Beispiel Simone
Bassetti. Das ist ein – zugegeben – hitzköpfiger Südländer, der im Übereifer
getötet hat. Ich habe meinem Mandaten geraten, seine Taten zuzugeben. Das
verstehe ich als Aufgabe eines Anwalts, der dem Recht dienen will. Ich möchte
den jungen Mann aber davor schützen, als blutrünstiger Mörder abqualifiziert zu
werden, nur weil er sich vergessen hat.«
»Sparen Sie sich
solche Erklärungsversuche«, erwiderte Frauke grob. »Bassetti ist als Auftragsmörder
im Namen der Organisation unterwegs gewesen. Das trifft auch auf Necmi Özden
zu. Und Bernd Richter. Und überall treten Sie in Erscheinung. Finden Sie das
nicht merkwürdig?«
Der Anwalt
schüttelte das greise Haupt, als würde er resignieren wollen. »Wie soll ich
Ihnen erklären, dass ich Jurist aus Leidenschaft und Überzeugung bin.«
»Eine Art Mutter
Teresa für Mörder?«, fragte Frauke.
»Sie sehen vor
überzogenem Eifer nicht mehr die Tatsachen«, sagte der Anwalt. »Das ist nicht
gut für eine Polizistin, die sicher tüchtig ist. Liegt es vielleicht daran,
dass Sie eine Frau sind und sich deshalb in einer von Männern geprägten
Umgebung doppelt beweisen müssen?«
»Wohnt in Ihnen ein
Macho, der Frauen auf Augenhöhe nicht akzeptieren mag?«
Dottore Carretta
winkte ab. Einen Moment betrachtete Frauke die dünne Greisenhand mit den
Altersflecken. Dann wanderte ihr Blick zum zerfurchten Gesicht, das von der
dicken Hornbrille dominiert wurde. Der faltenreiche Hals steckte in einem
blütenweißen Hemdkragen, der viel zu weit schien. Was bewog diesen alten Mann,
sich so vehement für die gefassten Täter aus den Reihen der Organisation
einzusetzen?, überlegte Frauke. Sicher. Der Anwalt bewegte sich nur im Rahmen
des geltenden Rechts. Für sie war Dottore Carretta der Repräsentant der
Organisation auf dem Feld der Legalität. Traf das auch auf Dr. Eigelstein
zu, der Eigentümer des merkwürdigen Hauses in Isernhagen war, in dem Georg
zeitweise Unterschlupf gefunden hatte? Schließlich wusste die Polizei, dass Dr. Eigelstein
der Anwalt von Igor Stupinowitsch war. Wie hing das alles miteinander
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