Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
bedurften, selbst erwirtschafteten. Nur wenige waren für ihr täglich Brot auf Zukäufe angewiesen, wie die Gaderin, die nach dem Tod von Mann und Sohn einen Großteil der Felder und des Viehs aufgeben musste. Und jeder wusste, an wen von den anderen man sich zu wenden hatte, falls man – stand beispielsweise ein Fest an – zusätzlich etwas benötigte, ohne dass dabei Geld die Hände wechseln musste.
Für alles, was auf diese Weise nicht zu beschaffen war, gab es im Ort einen Dorfschmied und einen Laden, in dessen wenigen, engen Regalen sich Stoffballen, häusliche Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge, einfacher Schmuck und solch fast schon sündige Waren wie Kaffee oder Zucker drängten. Man scheute den beschwerlichen Weg in das größere Dorf am Fuß des Berges, selbst wenn das arbeitsreiche Leben überhaupt Zeit dazu ließ, und dieser Laden war die einzige Brücke zur Welt da draußen und deren Versuchungen.
Der Ladenbesitzer, ein kleiner, hagerer Mann mit dünnen, öligen Haaren und einem schmalen Schnurrbart, und seine unscheinbare, teigige Frau, die beide ihre Jugend schon lang abgestreift hatten, machten sich zweimal im Jahr auf zum großen Einkauf – einmal im Herbst, bevor der Schnee den Abstieg aus dem umkesselten Plateau unmöglich machte, und einmal nach der Schmelze, wenn die Warenvorräte des Winters fast leergekauft waren. Das meiste, was sie auf mehreren Packtieren dabei heraufbeförderten, war Nützliches, für den unvermeidbaren Gebrauch Bestimmtes, denn für alles Schmückende, nur dem Genuss Dienende fehlte den Leuten hier oben das Geld und der Sinn. Selten hatte das Krämerpaar einen Kunden, der sich zufrieden etwas gönnte von seinem Ersparten – den meisten schien das Betreten des Ladens wie das Eingeständnis, dass man nicht gut genug gehaushaltet hatte.
Dass die beiden mit ihrem Geschäft dennoch ein Auskommen hatten, lag weniger an den hohen Preisen, die sie für die unverzichtbare Ware, und den noch höheren, die sie für die Luxusgüter verlangten. Es lag daran, dass die Bewohner des Tals immer dann, wenn einer der ungeliebten Einkäufe unumgänglich war, auf die Anwesenheit des Krämerladens angewiesen waren. So war man darauf bedacht, den Besitzer und seine Frau im Ort zu halten. Es hatte sich so eingespielt,dass es den beiden nie an etwas fehlte. Viele der Bauern hier oben hatten ja, außer ein paar geerbten, in der Truhe sorgsam aufbewahrten Münzen, überhaupt kein Geld. Sie ließen beim Krämer Rechnungen anschreiben, von denen der so gut wusste wie die Bauern, dass sie nie mit Heller und Pfennig beglichen würden. Aber es war unausgesprochener Brauch geworden, dass der Händler diese Schulden bei Bedarf in Naturalien einfordern konnte, und dass dann er es war, der die Umrechnung nach Gutdünken vornehmen durfte.
Da aber der Händler selbst, so gut er hier oben von dem indirekten Tauschhandel leben konnte, hartes Geld brauchte, wenn er die Regale seines Geschäfts wieder neu bestücken wollte, sorgte man dafür, dass er auch dieses hinreichend in seiner Kasse fand. Manchmal schien es, dass die frivoleren seiner Waren, die fremdartigen Genussmittel, die vielfach überteuerten Zier- und Schmuckstücke für beide Seiten nichts anderes waren als eine Möglichkeit, gehörig klingende Münze in die Schublade der ratternden Registrierkasse zu füllen, die in absurdem Missverhältnis zur Seltenheit ihres Gebrauchs trotzig auf der Theke thronte. Und in Jahren, die die Launen des Wetters mager gemacht hatten, schienen besonders die Söhne des Brenner Bauern oft außergewöhnliche Gelüste zu verspüren nach Kolonialwaren, deren Genüssen gegenüber man sie sonst ganz gleichgültig kannte. Da tauchte, gerade am Ende des Winters, kurz bevor der Weg vom Berg hinab wieder frei wurde, der ein oder andere der sechs Brüder fast täglich in dem Laden auf und erstand solch ein Luxusgut gegen klingende Münze. Und schließlich fand der hereinbrechende Frühling die Kasse des Krämers so gefüllt wie immer.
All dies hatten die Gaderin und Luzi ihrem Gast gegenüber mehr angedeutet als erklärt – und hatten dabei in ihm, dersonst so viel hier oben gleichgültig hinzunehmen schien, stets einen erstaunlich aufmerksamen Zuhörer gefunden. Der Ladenbesitzer und seine Frau waren dann auch die ersten Menschen gewesen, mit denen Greider in den Tagen nach seiner Ankunft im Hochtal ein Wort wechselte außer seinen Gastgeberinnen. Diese hatten ihn bei seinem ersten Besuch in dem Geschäft noch
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