Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
hätte, der unverhältnismäßig groß auf dem flachen, schmalen Bau prangte? Und seit wann waren die unregelmäßigen Schläge wie von einer tonlosen, kurzatmigen Glocke schon zu hören gewesen, die er nun aus derselben Richtung zu vernehmen glaubte?
Diesmal gab sich Greider mit seiner Arbeit schon zufrieden, nachdem er nur ein Blatt mit ein paar Details des Panoramas gefüllt hatte. Dann verstaute er seine Stifte und seine Zeichenkohle, nahm den Block unter den Arm. Und ging die letzten Schritte durch den Schnee, dessen im Nachmittagsschatten überfrorene Kruste unter seinen Stiefeln brach, bis er endlich unmittelbar am Zaun des Brennerschen Anwesens stand.
Er stützte sich auf den obersten Balken und ließ erneut und genauer als je zuvor seinen Blick über den Hof streichen. Doch kaum war er ein paar Atemzüge so verharrt, da zog der kleine Anbau neben dem Stall seine Aufmerksamkeit auf sich, weil das gluthelle Flackern, das aus ihm drang, plötzlich unterbrochen wurde. In der türlosen Öffnung war eine Gestalt erschienen, die einen großen Schatten in den Schnee warf. Sie füllte das Rechteck des Eingangs so vollständig aus, dass nur ein kleiner Kranz des rotgelben Lichts noch Raum hatte, den Schattenleib zu umzüngeln.
Es war ein hünenhafter Mann, der sich da durch den Einlass zu zwängen schien, bekleidet mit einer Lederschürze, welche stammdicke Beine und einen fassgleichen Körper verbarg, mit Unterarmen so stark wie eines kräftigen Mannes Oberschenkel und einem Nacken, der die stierbreiten Schultern ansatzlos in den runden, kahlen Schädel übergehen ließ – der ganze Kerl glänzend und dampfend von Schweiß. In der einen Hand hielt der Hofschmied locker seinen Hammer, den ein gewöhnlicher Mann nur mit beiden Armen zu schwingen vermocht hätte, in der anderen seine Zange, deren Spitze ein weiß glühendes Stück Metall umfasst hielt.
Von dem Moment an, da er durch die Türöffnung getreten war, hatten seine tief liegenden, polierten Eisenkugeln gleichenden Augen sich an Greiders Blick gekrallt und diesen fest an sich gezwungen. Und sie wendeten sich auch nicht ab, alsder Schmied das Eisen in einen Schneehaufen stieß, aus dem sofort Dampf aufzischte. Nur einen kurzen Moment gönnte er sich, das erkaltete, schwarz gewordene Werkstück in Gesichtshöhe zu heben und zu prüfen. Ein Hufnagel war es, von dem der Blick des Schmieds – der das Gewicht seines Hammers in der anderen Hand spielerisch tanzen ließ – umgehend zu Greider zurückkehrte, um ihn herausfordernd zu mustern.
Wer immer unter dem Dach des Brenner-Hofs zurückblieb, wenn die sechs Söhne ausgeritten waren, wer immer im Dämmer hinter den halb blinden Fenstern kauerte – er wusste sein Haus nicht ohne Hüter.
VI
Während der Wochen, die seit Greiders Ankunft ins Land gezogen waren, war es immer näher auf Weihnachten zugegangen. Man hatte wenig davon gespürt hier im Hochtal, wo auch die Adventszeit nicht viel Schmuck und Bräuche kannte. Es hatte sich höchstens mancher ein oder zwei von den beim Holzen abgehauenen Tannenzweigen in die Stube geholt – was so sehr dem guten Geruch zu verdanken war, den sie dann dort verbreiteten, wie dem Gedanken an den heranrückenden hohen Feiertag.
Aber dieser Gedanke war jeden der letzten vier Sonntage vor jenem Fest in der Kirche wachgehalten worden, in der Liturgie und in den strengen Predigten des Pfarrers Breiser. Sein Haus Gottes stand etwas abseits vom Dorf, ein kleiner, knochenweißer Bau mit einem spitzen Turm, in dem nicht mehr Platz hatte als ein Geläut aus drei Glocken, von denen nur die größte diese Bezeichnung verdient hatte. Die anderen beiden waren bessere Bimmeln, deren Betätigung der Verkündigungbesonderer Anlässe vorbehalten war. Auch innen bot die Kirche nur den gerade nötigen Raum, um die paar Dutzend Talbewohner in einer Handvoll eng gedrängter Bankreihen aufzunehmen.
Ihr einziger Schmuck außer dem Altar, dessen Tabernakel tatsächlich mit dünnem Gold verziert war, war ein Kreuzweg aus grob geschnitzten Bildtafeln an den Seitenwänden. Das Holz dieser Tafeln war im Lauf der Jahre auch da gedunkelt, wo das Schnitzmesser des Künstlers einst helle Kerben und Narben hinterlassen hatte. Und da die Fenster der Kirche wenige an der Zahl und schmal waren, war es aus etwas Entfernung schwierig, in dem schummrigen Licht die Bilder deutlich zu erkennen. Die Arbeit war eher unbeholfen, es musste wohl jemand aus dem Tal selbst gewesen sein, der versucht hatte, die
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