Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
Erwartung unerfüllt geblieben. Nun aber war die Nacht der Geburt des Herrn gekommen, und wenn es überhaupt einen Anlass gab, der selbst einem Breiser Milde würde einflößen können, dann musste es dieser sein.
Die Fenster der Kirche erschienen allein durch den blausilbernen Schimmer des auf dem Schnee reflektierten Mondlichtsnicht ganz als schwarze Löcher, und von den Kerzen, die in einfach geschmiedeten Ständern die Seitengänge des Kirchenschiffs säumten, fiel ein Licht auf die geschnitzten Bildtafeln, das ihre Erhöhungen und Vertiefungen mit schweren Schatten überdeutlich hervortreten ließ. Jedes Mal, wenn eine Unreinheit im Wachs eine der Flammen aufschrecken oder sich ducken ließ, wenn ein Luftzug eine Gruppe von ihnen zum Schwanken brachte, schienen die gequälten Holzleiber auf dem Kreuzgang zu zucken.
Doch selbst wenn einer aus der zur Mitternachtsmette versammelten Gemeinde dafür ein Auge gehabt hätte, hätte er es nicht beachtet. Denn heute galt es nicht, des Opfertods des Gottessohns zu gedenken, sondern seine Geburt zu feiern. Deshalb hatte man sich in feiner Tracht und mit dicken Überjacken eingefunden, dicht gedrängt und andächtig in den übervollen Bankreihen des Gotteshauses, das sich langsam erst mit Wärme füllte. Deshalb harrte man jetzt des Erscheinens Breisers, während seine zwei Ministranten am Altar versuchten, nicht zu zittern, obwohl sie übernächtigt waren und dort standen, wo sich im Raum die Kälte am besten gehalten hatte.
Sowenig die Menschen des Tals auf die Adventszeit gegeben hatten, ließen sie dennoch spüren, dass Weihnachten selbst für sie ein besonderer Tag war. In der Früh wurde so bald als möglich alles an Arbeit erledigt, was sich nicht vernachlässigen oder aufschieben ließ. Die Tiere in den Ställen wurden versorgt, die Öfen beheizt, die letzten Stuben ausgekehrt und rein gemacht, das Festmahl vorbereitet. Doch dann galt der Rest des Tages nur noch der Erwartung des Abends und der Einstimmung auf den mitternächtlichen Kirchgang.
Auch im Haus der Witwe Gader hatte man am Nachmittag begonnen, die Festtagsgewänder aus der Truhe zu holen, sie aufzubürsten und zurechtzulegen. Luzi hatte dabei offenbarnoch mehr Sorgfalt walten lassen, als es jedes Jahr üblich war – jedenfalls hatte ihre Mutter liebevoll gescherzt, sie nehme es wohl wegen des Hausgasts diesmal besonders genau und wolle guten Staat machen, wenn der Fremde sie nachts zur Kirche geleiten würde. Luzi lächelte dabei nur in sich hinein, aber sie half tatsächlich Greider, der kein wirklich angemessenes Gewand mit sich führte, seine feinste Kleidung auszusuchen, sie festtagswürdig zu machen – bis keine unerwünschte Falte, kein loser Faden oder lockerer Knopf die Erscheinung mehr trübte. Und als Greider dies Gewand nachmittags einmal zur Probe angelegt hatte, da schaute Luzi ihn prüfend an, überlegte einen Moment, verschwand dann und tauchte kurz danach mit einem Halstuch wieder auf, das sie Greider umband und das ihn tatsächlich sowohl vornehmer als auch schneidiger aussehen ließ.
All diese Vorbereitungen hatten den Nachmittag doch so weit ausgefüllt, dass nicht mehr viel Zeit zu vertreiben war bis zum Abendessen, für das die Vorratskammer ein paar sorgfältig aufbewahrte Schätze hatte hergeben müssen. Man nahm die Mahlzeit in bedächtig genießerischer Stille ein, mit einer zufriedenen Einvernehmlichkeit zwischen den dreien. Als auch dies geschehen war, galt es schon bald, die feine Kleidung erneut anzulegen und sich bereit zu machen für den Weg zur großen Festtags-Versammlung.
Wäre in der Stunde vor Mitternacht ein Vogel im eisigen, nur von ein paar silbergeränderten Wolken durchzogenen Himmel über dem Tal geschwebt, er hätte beobachten können, wie an den Rändern der Hochebene beginnend sich leuchtende Punkte vor den Häusern entfachten und sich auf den Ort in der Talmitte zubewegten. Je näher es auf Mitternacht zuging, je mehr dieser Punkte kamen aus den näher zum Dorf gelegenen Höfen hinzu. Und all diese gelb zwinkernden Punkte reihten sich, an den Wegkreuzungen vereint,nach und nach zu einer flackernden Kette: dem mit Fackeln beleuchteten Zug zur hohen Feier. Alle hatten sich aufgemacht, die irgendwie schon alt oder noch rüstig genug waren, sich so spät in der kalten Nacht aus dem Haus zu begeben. Die kleinsten Kinder, traumduselig den unterbrochenen Schlaf noch in den Augenwinkeln, trug man auf dem Arm oder in einer Kraxe; die gebrechlichen Alten zog
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