Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
man auf großen Schlitten, auf denen sie, Mumien gleich, eingepackt in warme Decken saßen – manche noch ganz kregel, lauthals scherzend, andere im Dämmerzustand, in den nicht mehr viel von der Welt drang. Die jungen Männer trugen die Fackeln voran, nicht selten dabei um die Aufmerksamkeit eines hübschen Mädchens buhlend; die Hofherren schritten gemütlich einher, ihre Frau neben sich am Arm führend; der Rest der Familie und das Gesinde folgte respektvoll hinterdrein.
Die meisten dieser Grüppchen begannen ihre Prozession ausgesprochen fröhlich. Man war noch gewärmt von der Geselligkeit der Stube, dem Abendessen und den Getränken, die anlässlich des besonderen Tags gern etwas reichlicher genossen worden waren. Und in den meisten Häusern hatte sich im Lauf des Abends eine muntere Stimmung entwickelt – man war als guter Christenmensch in diesen Tagen einander wohlgesinnt, und man war zufrieden, wieder die Arbeit und Mühe eines Jahres hinter sich gebracht zu haben und nun ein paar wenige, kostbare Tage des verhältnismäßigen Müßiggangs mit höchstem himmlischem Segen vor sich zu wissen.
Doch als würde die Kälte des Wegs diese Glut der Freude langsam packen und löschen, wurden die Leute immer ruhiger, je näher sie ihrem Ziel kamen. Ja, es schien geradezu, dass selbst in dieser Nacht, sobald die Kirche in Sichtweite war, eine Bedrücktheit sie anfiel, obwohl dies doch der Ort war,wo ihnen die Frohe Botschaft verkündet werden sollte. Die Gespräche wurden gedämpfter oder erstarben ganz, die jungen Leute, die Fackelträger reihten sich brav in die Prozession, ohne gelegentlich ein Stück vor oder zurück zu laufen, miteinander zu lachen, die Schritte schienen immer schwerer.
Nur bei der kleinen Gruppe um die Gaderin verhielt es sich genau andersherum. Die Witwe, ihre Tochter und Greider hatten sich bedächtig und schweigsam auf den Weg gemacht, und trotz der vorherigen Scherze der Mutter ließ Luzi sich zwar gerne von dem Gast geleiten, aber da war keinerlei Koketterie mit im Spiel – Bruder und Schwester hätten keine höflichere Herzlichkeit an den Tag legen können. Doch je näher die Kirche kam und die Menschenansammlung davor, desto aufgeregter und freudiger wurde Luzi. Da zupfte sie immer häufiger den Sitz ihres Gewands zurecht, ordnete sie mit ihren Fingern den Fall ihrer Locken, warf sie abwechselnd ihrer Mutter und Greider einen fragenden Blick zu, ob an ihrer Erscheinung denn auch wirklich alles so vorteilhaft wie möglich sei. Und auf ihrem Gesicht wechselte sich ein besorgter Ausdruck – dem stets eben wieder etwas eingefallen schien, was besser und schöner hätte herausgeputzt werden können – mit einem stillen, erwartungsvollen Strahlen ab. Sobald die drei die ersten Wegkreuzungen erreicht hatten, an denen sie auf Grüppchen aus den anderen Höfen und Häusern stießen, hatte Luzi wenig Erfolg beim Versuch, zu verbergen, dass sie immer wieder den Hals reckte und den Blick schweifen ließ, um zu mustern, wer da alles vor und hinter ihnen spazierte.
Hatten die Gaderin und ihr unverhoffter Wintergast in den Wochen zuvor immer wieder kleine Seltsamkeiten in Luzis Verhalten bemerkt, so dämmerte ihnen spätestens jetzt die Erklärung dafür, und die ältere Frau und der Mann schmunzelten sich hinter Luzis Rücken nun gelegentlich zu. Und als dieGaderin schließlich wagte, ihre Tochter zu fragen: »Schaust nach wem?«, und diese abwehrend antwortete: »Naa, naa!«, da wussten beide, dass sie log – und dass die Person, nach der Luzi Ausschau hielt, gewiss jung war und männlich.
So überraschte es die beiden auch nicht, dass, sobald man bei der bereits vor der Kirche versammelten Menschenmenge angekommen war, Luzi behauptete, sie wolle eine Freundin begrüßen – und im Getümmel verschwand, bevor ihre Mutter viele Fragen dazu stellen konnte. Aber die Gaderin ließ sie sowieso freimütig ziehen, stand mit einem etwas verlegenen Lächeln vor Greider und begann dann schnell, über die Kälte und die anderen Leute und den zu erwartenden Gottesdienst zu reden.
Doch plötzlich erlosch von den Rändern der Menge her das Murmeln der Gespräche und wurde ersetzt durch eine ehrerbietige Stille. Die letzte der fackeltragenden Gruppen war eingetroffen, und sie wurde offenbar nicht wie die anderen als gewöhnlicher Teil der Gemeinschaft empfunden. Schon ihren langen Weg, der im hintersten Winkel des Tals begonnen hatte, war sie von Anfang bis Ende allein gegangen, ohne sich mit dem
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