Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
allgemeinen Strom der Lichter zu vereinigen. Dennoch hatte die von ihr verbreitete Insel der Helligkeit mehr Kraft, gegen das Winterdunkel anzubrennen, als der Schein mancher von drei, vier Höfen zusammen gebildeter Schar. Denn diese Gruppe war sowohl von der Zahl ihrer Mitglieder als auch der ihrer Lichtscheite stärker als alle anderen. Sechs Männer zu Pferd bildeten die Spitze und die Flanken der Gruppe, noch einmal so viele Menschen liefen an ihrem Ende auf Schusters Rappen hinterdrein, und alle trugen sie Fackeln. Der Mittelpunkt der ganzen Prozession aber war ein mächtiger Schlitten, gezogen von zwei stämmigen Gebirgspferden, die ein riesenhafter Mann zum steten Vorwärtsstapfen antrieb.
Der Schlitten wirkte wie eine Kreuzung aus einem länglichen Trog und einer Kutsche. Auf den Kufen saß ein Aufbau mit Seitenwänden aus Holz und einer ledernen, halb offenen Überdachung am hinteren Ende. Sowohl vorn an jeder der Kufenspitzen als auch an den beiden hinteren Ecken des Gefährts steckten dicke Fackeln.
Die Männer zu Pferde hatte Greider sofort erkannt, es waren die ihm bereits vertrauten Söhne des Brenner Bauern, und obwohl er dessen Hofschmied bisher nur einmal ansichtig geworden war, machte dessen außerordentliche Gestalt es nicht schwer, ihn in dem Treiber der Schlittenpferde wiederzuentdecken. Erst auf den zweiten Blick enthüllte sich Greider, dass die hintanlaufenden Leute allesamt Frauen waren, Mägde wohl, auch wenn er darauf nicht hätte wetten mögen. Nicht lange zu raten aber hatte er, wer der Mann sein musste, der in dicke Felle eingemummt in dem Schlitten thronte. Doch so leuchtend die Fackelstrahlen die Umgebung des Schlittens erhellten, zu dessen Mitte hin mischten sie sich mit dem Schattenwurf des Dachs zu etwas unbeständig Flackerndem. Man ahnte nur etwas von einem knochenweißen Gesicht, vierkantig wie ein Klotz, aus dem scharf eine Nase hervorhakte, durchzogen von einem verpressten Mund, dessen schmale Linie parallel zur waagrechten Kinnkante lag. Auf dem Haupt prangte langes, schlohweißes Haar, das streng nach hinten gekämmt war. Und die ganze Miene war völlig steinern, hart und leblos – außer den schwarz blitzenden Augen, die in den tanzenden Höhlenschatten unter den Brauen lauerten: Dort saß die Macht und das Leben.
Doch bevor Greider die Augen des Alten länger hätte betrachten können, war der Schlitten schon an ihm vorbei. Alle beeilten sich, ihm den Weg frei zu machen, und die Gruppe des Brenner Bauern schien dies für so selbstverständlich zu nehmen, dass sie in rücksichtsloser Zügigkeit auf den Eingangdes Gotteshauses zustrebte und eine Mutter ihr neugieriges Kind erst im letzten Moment aus dem Weg des Schlittens zurückzerren konnte, bevor es unter die Hufe der massigen Pferde geraten wäre.
Der Schmied brachte den Schlitten so nah als möglich an der Pforte des Gotteshauses zum Stehen. Die Männer stiegen von ihren Pferden ab und machten sich daran, den Alten aus seinem fahrbaren Lager zu befreien. Die Felle und Decken wurden zur Seite geschlagen, eine der Seitenwände des Gefährts ließ sich herabklappen, und zwei der Söhne fassten den in einen Bärenfellmantel gehüllten Brenner links und rechts an den Hüften, während er je einen Arm voll zäher Kraft um die Nacken der beiden legte. So konnten sie ihn aus dem Schlitten ziehen und aufrichten. Der Alte vermochte nicht mehr, sich aus eigener Macht auf den Beinen zu halten, aber es schien dennoch nicht infrage zu kommen, dass ihn seine Söhne einfach den kurzen Weg in die Kirche getragen hätten. Die beiden jungen Männer gingen halb gebückt nebenher, während er mühsam, aber mit entschlossenem Gesicht einen Fuß vor den anderen setzte. Sein ganzes Gewicht lastete in Wahrheit auf ihren Schultern, und sein Gang wirkte fast wie der schwerelose Schritt einer Marionette – die jedoch ihrem Spieler ihren eigenen Willen aufzuzwingen verstand.
Respektvoll und geduldig beobachteten die Umstehenden das Schauspiel. Sie alle hatten mit dem Betreten der Kirche gewartet, bis diese Gruppe angekommen war. Erst als der Alte die Eingangspforte erreicht hatte, kam Bewegung in die Menge. Doch auch dann ließ man zunächst der Gruppe des Brenner den Vortritt. Erst folgten ihm seine Söhne – bis auf den Jüngsten, der zusammen mit dem Schmied auserkoren war, sich um die Pferde zu kümmern. Dann schlossen sich ihnen, in demütigem Abstand, die Frauen an.
Schließlich begann die größte Glocke der Kirche zu läuten,auf
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