Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
dass auch die übrigen Menschen in das Gotteshaus strömten. Bis dies geschah, waren nur wenige Minuten vergangen, aber schon war Luzi wieder da – und ihre Wangen von einer noch gesunderen Rötung, als die frische Luft ihnen zuvor schon aufgemalt hatte. Die junge Frau bemühte sich um ein dem Anlass angemessen andächtiges Gesicht, aber es war schwer zu übersehen, dass sie innerlich strahlte vor Glück. Wer immer in Wahrheit die »Freundin« war, nach der sie gesucht hatte – sie hatte ihn offenbar gefunden.
Doch Luzi schien die Einzige, die von Freude erfüllt war, als sie die Kirche betrat. Unter den anderen hatte sich die gedämpfte Stimmung noch weiter verdichtet und war zu etwas geworden, das dunkler, unseliger war als die dem Heiligen Abend zustehende Andacht und Würde. Schweigend und mit gesenkten Köpfen waren die Leute den Rufen der Glocke gefolgt und in die Kirche geschlurft, hatten dort dicht gedrängt in den Bänken Platz genommen wie Schulkinder, die bei einem strengen Lehrer eine schwere Prüfung erwarten. Nur die Männer der Brenner-Familie – welche schon in den ersten beiden Bankreihen Platz und diese gänzlich in Beschlag genommen hatte – saßen allesamt aufrecht, selbst der Alte in ihrer Mitte. Was sich dabei auf ihren den übrigen Kirchgängern abgewandten Gesichtern abspielte, vermochte keiner zu sagen.
Und so ließ der unter der Gemeinde Fremde schon bald die Erwartung fahren, wenigstens jetzt, am freudigen Ende des Jahreskreises und kurz vor dem hoffnungsvollen Beginn eines neuen, würde der Pfarrer sich gnädig und zufrieden zeigen. Jetzt würde er seine einschüchternde Gestalt, seine mächtige Stimme nutzen, um eine Botschaft der Zuversicht und Liebe zu verbreiten. Aber tatsächlich erwies sich nach seinem Eintreten schnell, dass Breiser seine eigene, unverrückbareVorstellung davon hatte, was seine Schäflein, egal was für ein Festtag sei, zu ihrem Heil brauchten. Wer in seiner Kirche saß, dem wurde eingebläut, dass er ein Sünder sei, und wenn er dennoch eine winzige Hoffnung auf Gottes Gnade hatte, dann nur, weil der Allerhöchste so viel barmherziger und nachsichtiger – um nicht zu sagen
allzu
gutmütig – war, als es Breiser an seiner Stelle je wäre.
Das spürte man nie besser als an diesem Tag. Verhalten und brüchig klangen die Stimmen bei den ersten Erwiderungen, Gesängen, die sie von sich zu geben hatten, ein Klang der Unterwürfigkeit. Breisers Worte – ihr Ton so sehr wie ihr Inhalt – ließen die Gemeinde wie geduckt in den Bänken sitzen, und doch hing sie an seinen Lippen. Selbst jetzt, wo die späte Stunde und die Kälte in der Kirche andernorts gewiss den ein oder anderen einnicken hätte lassen oder mit den Gedanken abschweifen, gab es niemanden, der hätte weghören können bei Breisers Weihnachtspredigt. Man sah es Breiser an, dass er wusste und genoss, wie fest er seine Zuhörerschaft im Griff hatte.
»Den Heiligen Vater«, mahnte Breiser, »den dürft ihr keinen Tag und keine Stunde vergessen, das wisst ihr.« Murmelnd und nickend kam die Zustimmung, als er eine Pause machte und seine Augen über die Menschen in den Bankreihen streifen ließ. »Aber lasst uns heute an einen Vater denken, der nicht so allmächtig ist. Ohne den ihr aber den Heiland auch nicht gehabt hättet. Lasst uns denken an den guten Josef.
Was glaubt ihr, was der gedacht hat, als seine Maria mit Kind war, und er hatte gar nicht bei ihr gelegen. Stellt euch einmal vor, wie das ist für einen, der hat gerade geheiratet, und dann sieht er, seine Frau bekommt von einem anderen ein Kind. Die Worte möchte ich nicht sagen, die so einer für die Frau und das Kind da haben könnte.«
Es herrschte eine seltsam gespannte Stille in der Kirche, ein Schweigen, das schon fast zu ächzen schien unter dem Druck, den es barg. In den Gesichtern der Leute war zu lesen, wie gut sie sich an Josefs Stelle denken konnten, und welche Gefühle das bei ihnen auslöste. Manch einem schienen die entsprechenden Worte nur grade auf der Zunge zu liegen, und es war eine Anstrengung, sie zurückzubeißen.
»Einen Zorn muss er bekommen haben«, fuhr Breiser fort, eben das, was auf den Gesichtern zu sehen war in Sprache fassend, »und eine Ohnmacht gespürt, und alles muss ihm falsch und verkehrt vorgekommen sein. Jeder hätte es verstehen müssen, wenn er handgreiflich geworden wäre. Wenn er die Maria davongejagt hätte, und aller Welt gezeigt, was er glaubt, dass sie für eine sei.
Aber fromm war er, sagt
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