Das Flammende Kreuz
ja?«
Ich sah, wie sich Jamies Gesichtsausdruck fast unmerklich veränderte. Er und Brianna standen draußen auf der Veranda gleich hinter Roger und beobachteten das Geschehen mit großem Interesse. Brianna stand zu Roger hinübergebeugt, und ihre Miene war etwas nervös, so als hätte sie ihn am liebsten durch ihre Willenskraft dazu gebracht, die Buchstaben zu lesen.
Jamies Miene dagegen zeigte leichte Überraschung, einen Anflug von Mitleid - und ein unleugbares Aufblitzen der Genugtuung. Er konnte offensichtlich die fünfte Zeile ohne Probleme lesen. Sie stammte aus Julius Caesar : Weil er tapfer war, ehr ich ihn; aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn.
Er spürte meinen Blick, und der Ausdruck verschwand. Sein Gesicht nahm umgehend wieder die übliche Miene gutmütiger Unergründlichkeit an. Ich gab ihm mit zusammengekniffenen Augen zu verstehen, dass er mich nicht zum Narren halten konnte, und er wandte den Kopf ab. Sein Mundwinkel zuckte schwach.
»Du kannst gar nichts von der nächsten Zeile lesen?« Wie durch Osmose angezogen, war Brianna dichter an Roger heran getreten. Sie starrte gebannt auf das Papier und sah ihn dann ermutigend an. Auch sie konnte offensichtlich die beiden letzten Zeilen ohne Schwierigkeiten lesen.
»Nein«, sagte Roger kurz angebunden. Er hatte sich auf ihre Bitte hin bereit erklärt, seine Augen von mir untersuchen zu lassen, aber er war offensichtlich nicht besonders glücklich darüber. Er schlug sich ungeduldig mit dem Löffel auf die Handfläche, als könne er es nicht abwarten, die Sache hinter sich zu bringen. »Sonst noch etwas?«
»Nur noch ein paar kleine Übungen«, sagte ich so beruhigend wie möglich. »Komm hier herein, da ist das Licht besser.« Ich legte ihm die Hand auf den Arm und zog ihn auf mein Sprechzimmer zu. Dabei warf ich Brianna und Jamie einen entschlossenen Blick zu. »Brianna, wie wär’s, wenn du schon den Tisch für das Abendessen deckst? Wir brauchen nicht lange.«
Sie zögerte eine Sekunde, doch Jamie berührte ihren Arm und sagte leise etwas zu ihr. Sie nickte, sah Roger erneut mit einem kleinen, nervösen Stirnrunzeln an und ging. Jamie zuckte entschuldigend mit den Achseln und folgte ihr.
Roger stand inmitten des Durcheinanders in meinem Sprechzimmer und sah aus wie ein Bär, der in der Ferne Hunde bellen hört - verärgert und argwöhnisch zugleich.
»Das ist doch wirklich nicht nötig«, sagte er, als ich die Tür schloss. »Ich kann wunderbar sehen. Ich schieße nur einfach noch nicht gut. Mit meinen Augen ist alles in Ordnung.« Dennoch machte er keine Anstalten zu gehen, und der Anflug des Zweifels in seiner Stimme entging mir nicht.
»Davon bin ich fest überzeugt«, sagte ich zuversichtlich. »Lass mich trotzdem einen raschen Blick darauf werfen... es ist wirklich nur Neugier meinerseits...« Ich brachte ihn dazu, sich, wenn auch widerstrebend, zu setzen, und da ich keine Taschenlampe hatte, zündete ich eine Kerze an.
Ich hielt sie ihm dicht vor das Gesicht, um seine Pupillenerweiterung zu überprüfen. Seine Augen hatten eine wunderhübsche Farbe, dachte ich; nicht der geringste Braunstich, sondern ein ganz klares, dunkles Grün. So dunkel, dass sie im Schatten fast schwarz aussahen, im hellen Licht betrachtet jedoch verblüffend intensiv - beinahe smaragdgrün - gefärbt waren. Ein verstörender Anblick für jemanden, der Geilie Duncan gekannt und gesehen hatte, wie ihr Wahnwitz in diesen klaren, grünen Tiefen auflachte. Ich hoffte, dass Roger wirklich nur die Augen von ihr geerbt hatte.
Er kniff unwillkürlich die Augen zu, und als sich seine langen, schwarzen Wimpern darüber senkten, verflog die Erinnerung. Diese Augen waren wunderschön - aber voller Ruhe, und ihnen haftete nichts Irres an. Ich lächelte ihm zu, und er erwiderte das Lächeln automatisch, ohne den Grund zu verstehen.
Ich fuhr mit der Kerze vor seinem Gesicht hin und her, auf und ab, nach rechts und links, bat ihn, den Blick dabei auf die Flamme gerichtet zu halten und beobachtete die Veränderungen seiner Augen. Da bei diesem Test keine Antworten von ihm erwartet wurden, entspannte er sich langsam ein wenig, und die Fäuste auf seinen Oberschenkeln lockerten sich allmählich.
»Sehr schön«, sagte ich in leisem, beruhigendem Tonfall. »Ja, so ist es gut... kannst du bitte nach oben schauen? Ja, jetzt nach unten in die Ecke am Fenster. Mm-hm, ja... Jetzt wieder zu mir. Siehst du meinen Finger? Gut, jetzt mach das linke Auge zu und sag mir, ob
Weitere Kostenlose Bücher