Das Flammende Kreuz
über Ziegen, aber ich wusste genug über Mütter und Babys, um zu begreifen, dass nur der Tod eine Mutter von einem Kind fern halten konnte, das unablässig einen solchen Lärm machte. Die anderen Ziegen waren zurück gekommen, aus Neugier, Angst vor der Dunkelheit oder dem schlichten Bedürfnis nach Gesellschaft, doch die Mutter zeigte sich nicht.
»Arme Becky«, sagte Mrs. Beardsley traurig. »Sie war so eine liebe Ziege.«
Dunkle Gestalten umdrängten uns schubsend; ein heißer Lufthauch traf mein Ohr, als eine der Ziegen an meinem Haar knabberte, eine andere trat mir auf den Unterschenkel, und ich japste auf, als ihre scharfen, kleinen Hufe über meine Haut kratzten. Doch ich machte keinen Versuch, sie fortzuscheuchen; die Anwesenheit seines Harems schien für Hiram Wunder zu wirken.
Ich hatte die Beinknochen wieder an ihren Platz gerückt und die Schiene fest darum gebunden. Ich hatte einen guten Pulspunkt am Ohransatz des Ziegenbocks gefunden und war gerade dabei zu zählen, Hirams Kopf auf dem Schoß. Als sich die anderen Ziegen an ihn drängten, an ihm schnüffelten und klagende Laute von sich gaben, hob er plötzlich den Kopf und richtete sich auf seine Brust auf. Das gebrochene Bein stand samt Verband nach vorn ab.
Im ersten Moment schwankte er hin und her wie ein Betrunkener, dann gab er ein lautes, unwilliges »MÄÄÄÄÄHHH« von sich und erhob sich taumelnd auf die Beine. Er fiel prompt wieder hin, aber der Versuch erfreute alle Anwesenden. Selbst Mrs. Beardsley gab bei diesem Anblick ein schwaches, vergnügtes Trillern von sich.
»Nun gut.« Jamie stand auf und fuhr sich seufzend mit den Fingern durch das Haar. »Also dann.«
»Also dann was ?«, fragte ich.
»Jetzt entscheide ich, was wir machen«, sagte er mit einem gewissen, gereizten Unterton.
»Gehen wir nicht weiter nach Brownsville?«
»Das könnten wir tun«, sagte er. »Falls Mrs. Beardsley zufälligerweise den Weg so gut kennt, dass sie ihn bei Sternenschein wiederfindet?« Er drehte sich ihr erwartungsvoll zu, doch ich konnte ihre negative Kopfbewegung trotz der Dunkelheit sehen.
Mir dämmerte, dass wir uns in der Tat nicht mehr auf dem Weg befanden - der sowieso nicht mehr als ein schmaler Wildwechsel war, der sich durch den Wald wand.
»Aber wir sind doch bestimmt nicht weit davon entfernt?« Ich sah mich um und blinzelte vergeblich in die Dunkelheit, als könnte irgendwo ein beleuchtetes Straßenschild die Position des Weges anzeigen. Ich wusste nicht einmal, in welcher Richtung er lag.
»Nein«, pflichtete Jamie mir bei. »Und wenn ich allein wäre, würde ich auch früher oder später darauf stoßen. Aber ich habe nicht vor, mit dieser Truppe hier durch den Wald zu irren.« Er sah sich um und zählte offensichtlich die Häupter seiner Lieben. Zwei höchst nervöse Pferde, zwei Frauen - von denen sich eine ausgesprochen merkwürdig verhielt und womöglich eine potentielle Mörderin war - und sechs Ziegen, von denen zwei nicht laufen konnten. Ich konnte ihn gut verstehen.
Er richtete sich auf und zuckte leicht mit den Achseln, als wollte er ein zu enges Hemd zurechtrücken.
»Ich gehe mich umsehen. Wenn ich den Pfad sofort finde, schön und gut. Wenn nicht, schlagen wir für die Nacht ein Lager auf«, sagte er. »Bei Tageslicht wird der Pfad sehr viel einfacher zu finden sein. Sei achtsam, Sassenach.«
Mit einem abschließenden Niesen verschwand er im Wald und ließ die Witwen und Waisen in meiner Obhut zurück.
Das Jammern des mutterlosen Zickleins wurde immer lauter und drängender; es tat mir in den Ohren und in der Seele weh. Mrs. Beardsley dagegen wurde in Jamies Abwesenheit zusehends lebendiger; ich vermutete, dass sie große Angst vor ihm hatte. Jetzt führte sie eine der anderen Ziegen herbei und überredete sie, still zu stehen, damit das Zicklein trinken konnte. Es zögerte einen Augenblick, doch dann wurde es von Hunger und dem Bedürfnis nach Wärme überwältigt, und kurz darauf trank es schon eifrig und wackelte dabei mit seinem dunklen Schwänzchen.
Ich freute mich, das zu sehen, wurde mir jedoch auch eines schwachen Neidgefühls bewusst; ich spürte jetzt, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, dass ich furchtbar fror, hundemüde war und mich diverse Körperteile schmerzten - und mir war klar, dass ich längst heil in Brownsville sein könnte und satt und warm an einem freundlichen Kamin sitzen könnte, wenn Mrs. Beardsley und ihre Begleiter nicht für solche Komplikationen gesorgt hätten.
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