Das Flammende Kreuz
vor Konzentration die Lippen und heftete die blinden, blauen Augen auf ihre übliche, verunsichernde Art knapp über meine rechte Schulter hinweg. Ihr Verhalten drückte Anteilnahme aus, jedoch keine große Bestürzung. Ihre verblüffte Miene ging in den Ausdruck eines Menschen über, der plötzlich eine Erklärung für einen Umstand findet, der ihm bislang Sorgen bereitet hat - und der sowohl erleichtert als auch zufrieden über die Entdeckung ist.
Mir wurde klar, dass sie und Duncan tatsächlich seit über einem Jahr unter demselben Dach lebten und seit Monaten verlobt waren. In der Öffentlichkeit legte Duncan ihr gegenüber stets eine respektvolle - ja, sogar ehrerbietige -, umsichtige Haltung an den Tag, doch er machte keine körperlichen Gesten der Zärtlichkeit oder Besitzergreifung. Das war für diese Zeit ganz und gar nicht ungewöhnlich; manche Herren demonstrierten ihren Frauen zwar offen ihre Zuneigung, andere dagegen nicht. Doch womöglich hatte er auch unter vier Augen keine derartigen Gesten gemacht - und sie hatte sie erwartet.
Sie war einmal eine Schönheit gewesen, war es heute noch auf andere Art und war die Bewunderung der Männer gewöhnt; trotz ihrer Blindheit hatte ich sie schon gekonnt mit Andrew MacNeill, Ninian Bell Hamilton und Richard Caswell flirten sehen - ja, sogar mit Farquard Campbell. Vielleicht hatte es sie ja überrascht und sogar leicht aus der Fassung gebracht, keine offensichtlichen Anzeichen körperlichen Interesses bei Duncan hervorzurufen.
Doch jetzt wusste sie, warum das so war, und holte unter langsamem Kopfschütteln tief Luft.
»Mein Gott, der arme Mann«, sagte sie. »So etwas zu erleiden und sich damit abzufinden -nur damit es dann plötzlich wieder ans Licht gezerrt wird und ihn plagt. Du liebe St. Bride, warum kann die Vergangenheit uns nicht in dem Frieden belassen, den wir mit ihr geschlossen haben?« Sie blickte blinzelnd zu Boden, und ich stellte überrascht und berührt fest, dass ihre Augen feucht waren.
Eine hoch gewachsene Gestalt tauchte plötzlich hinter ihr auf, und als ich aufblickte, sah ich Vater LeClerc abwartend über uns stehen. In seiner schwarzen Kutte sah er aus wie eine mitfühlende Gewitterwolke.
»Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte er mich auf Französisch. »Monsieur Duncan hat eine Verletzung erlitten?«
Jocastas Französisch ging nicht über Phrasen wie »Comment ça va« hinaus,
doch sie hatte den Tonfall der Frage eindeutig verstanden und auch Duncans Namen aufgeschnappt.
»Sag ihm nichts«, sagte sie drängend zu mir und legte mir die Hand auf das Knie.
»Nein, nein«, beruhigte ich sie. Ich blickte zu dem Priester auf und machte mit den Fingern eine Geste, die ihm bedeuten sollte, dass es keinen Grund zur Sorge gab.
»Non, non«, sagte ich dann zu ihm. » C’est rien .« Es ist nichts.
Er betrachtete mich unsicher mit gerunzelter Stirn, dann sah er Jocasta an.
»Schwierigkeiten im Ehebett, nicht wahr?«, fragte er unverblümt auf Französisch. Mein Gesicht muss bei diesen Worten Bestürzung verraten haben, denn er machte eine diskrete Geste abwärts zur Vorderseite seiner Kutte. »Ich habe das Wort >Skrotum< gehört, Madame, und ich glaube nicht, dass Ihr von Tieren sprecht.«
Ich begriff - mit beträchtlicher Verspätung -, dass Vater LeClerc zwar kein Englisch sprach, dafür aber mit Sicherheit Latein.
»Merde«, murmelte ich, woraufhin Jocasta, die beim Klang des Wortes »Skrotum« ihrerseits abrupt aufgeblickt hatte, sich wieder zu mir umdrehte. Ich tätschelte ihr beruhigend die Hand, während ich versuchte, mir zu überlegen, was ich tun sollte. Vater LeClerc betrachtete uns voll Neugier, doch in seinen sanften, braunen Augen lag auch große Güte.
»Ich fürchte, er hat mehr oder minder erraten, worum es geht«, sagte ich entschuldigend zu Jocasta. »Ich denke, ich erkläre es ihm besser.«
Ihre oberen Schneidezähne bohrten sich in ihre Unterlippe, doch sie äußerte keine Einwände, und ich erklärte so knapp wie möglich auf Französisch die Lage. Der Priester zog die Augenbrauen hoch, und er griff mechanisch nach dem hölzernen Rosenkranz, der an seinem Gürtel hing.
»Oui, merde, Madame «, sagte er. » Quelle tragédie.« Er bekreuzigte sich kurz mit dem Rosenkranz, dann wischte er sich ganz unbefangen mit dem Ärmel das Fett aus dem Bart und setzte sich neben Jocasta.
»Fragt sie bitte, Madame, was ihr Wunsch in dieser Angelegenheit ist«, sagte er zu mir. Sein Ton war höflich, doch es war eine
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