Das Flammende Kreuz
mich an. »Könnte es sein, dass das Laudanum sein Erinnerungsvermögen beeinträchtigt hat?«
»Das ist möglich«, sagte ich stirnrunzelnd. »Sehr gut sogar. Aber es ist einfach nicht zu glauben, dass jemand, der so viel Laudanum geschluckt hatte, überhaupt herumgelaufen ist... es sei denn...«« Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an, weil mir eine Bemerkung einfiel, die Jocasta im Lauf eines Gespräches auf River Run gemacht hatte. »Ist es möglich, dass dein Onkel Opiumesser war oder so etwas? Jemand, der gewohnheitsmäßig große Mengen Laudanum zu sich nimmt, hat eine höhere Toleranzgrenze, und Rawlings’ Dosis hätte ihn in einem solchen Fall kaum beeinträchtigt.«
Jamie, der sich grundsätzlich nicht davon schockieren ließ, wenn jemand seiner Verwandtschaft etwas Unmoralisches unterstellte, dachte über meine Frage nach, schüttelte aber schließlich den Kopf.
»Wenn es so gewesen ist, ist es mir nicht zu Ohren gekommen. Andererseits«, fügte er in aller Logik hinzu, »gibt es natürlich keinen Grund, warum es mir jemand erzählen sollte.«
Das stimmte allerdings. Wenn Hector Cameron die Mittel gehabt hatte, sich an importierten Betäubungsmitteln zu verlustieren - und er hatte sie mit
Sicherheit gehabt, da River Run eine der florierendsten Plantagen der ganzen Gegend war -, dann war das ganz allein seine Sache gewesen. Dennoch war ich überzeugt, dass irgendjemand es erwähnt hätte.
Jamies Gedankengänge nahmen eine andere Richtung.
»Warum sollte ein Mann mitten in der Nacht aus dem Haus gehen, um zu pinkeln, Sassenach?«, fragte er. »Ich weiß , dass Hector Cameron einen Nachttopf hatte; ich habe ihn selbst schon benutzt. Sein Name und das Cameronwappen waren auf den Boden gemalt.«
»Eine exzellente Frage.« Ich starrte auf die Seite mit dem kryptischen Gekritzel. »Wenn Hector Cameron große Schmerzen oder Schwierigkeiten hatte - zum Beispiel durch einen Nierenstein -, könnte es doch sein, dass er nach draußen gegangen ist, um das Haus nicht zu wecken.«
»Mir ist zwar nichts davon zu Ohren gekommen, dass mein Onkel Opiumesser war, aber davon, dass er große Rücksicht auf seine Frau oder seine Dienstboten genommen hat, weiß ich auch nichts«, merkte Jamie ausgesprochen zynisch an. »Nach allem, was man hört, war Hector Cameron ein Erzschurke.«
Ich lachte.
»Das ist bestimmt auch der Grund, warum deine Tante Duncan so schätzt.«
Adso kam mit den Überresten der Libelle im Maul herein spaziert und setzte sich zu meinen Füßen nieder, so dass ich seine Beute bewundern konnte.
»Fein«, sagte ich und tätschelte ihn beiläufig. »Iss aber nicht zu viel davon; in der Vorratskammer sind noch jede Menge Küchenschaben, um die du dich kümmern sollst.«
» Ecce homo «, murmelte Jamie nachdenklich und tippte mit dem Finger auf das Notizbuch. »Meinst du, der homo war vielleicht Franzose?«
»Was?« Ich starrte ihn an.
»Bist du noch nicht auf den Gedanken gekommen, Sassenach, dass der Mann, dem der Doktor gefolgt ist, vielleicht gar nicht Cameron war?«
»Bis jetzt nicht, nein.« Ich beugte mich vor und blinzelte auf die Buchseite. »Aber warum sollte es jemand anders gewesen sein, geschweige denn, ein Franzose?«
Jamie wies mit dem Finger auf den Rand der Seite, der ein paar kleine Zeichnungen trug; Schnörkel, hatte ich gedacht. Die Zeichnung unter seinem Finger war eine Lilie.
» Ecce homo «, sagte er erneut und tippte darauf. »Der Doktor war sich nicht sicher, wer der Mann war, dem er gefolgt ist - deshalb hat er ihn nicht beim Namen genannt. Wenn Cameron betäubt war, war es jemand anders, der in jener Nacht das Haus verlassen hat - und doch erwähnt er keine anderen Anwesenden.«
»Das ist gut möglich, es sei denn, er hätte die betreffende Person untersucht«,
wandte ich ein. »Er fügt zwar persönliche Beobachtungen ein, doch das meiste in diesem Buch sind nur seine Fallhistorien; seine Beobachtungen über seine Patienten und die Behandlungen, die er angewandt hat. Aber trotzdem...« Ich blickte stirnrunzelnd auf die Seite. »Eine an den Rand gekritzelte Lilie muss nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben, schon gar nicht, dass ein Franzose dort war.« Abgesehen von Fergus gab es kaum Franzosen in North Carolina. Ich wusste von einer Reihe französischer Siedlungen südlich von Savannah - aber das war Hunderte von Meilen entfernt.
Die Lilie konnte gar nichts anderes als ein dahin gemalter Schnörkel sein - und doch konnte ich mich nicht entsinnen, dass
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