Das Flüstern der Albträume
seine Brille. »Es kommen nicht viele Studenten zu uns, die eine Gefängnisstrafe wegen Totschlags verbüßt haben.«
Eva hob das Kinn, sie wollte sich nicht ducken. Sie hatte ihre Strafe abgesessen. »Nein, vermutlich nicht.«
»Ihre Verurteilung hat dem Komitee ziemlich zu denken gegeben.«
Eva spürte das »Aber«, das auf sie zukam, und musste eine Welle vernichtender Enttäuschung niederkämpfen. Immer wieder hatte sie dieselbe Begründung gehört, wenn sie sich in Richmond um einen Job beworben hatte oder ein Zimmer mieten wollte. Doch anstatt den Kopf einzuziehen oder Traurigkeit zu zeigen, hielt sie ihren Blick auf Dr. Givens gerichtet. Wenn er ihr schon eine Absage erteilte, sollte er ihr dabei ins Gesicht schauen. »Was meinen Sie damit?«
»Aus Ihren Unterlagen geht hervor, dass Sie einen jungen Mann an Ihrem College, der Price University, getötet haben.«
Sie hatte aus den Einzelheiten keinen Hehl gemacht. »Ja.«
»Ich habe mit dem Gefängnisdirektor und mit Ihrem Bewährungshelfer gesprochen.«
Zweifellos hatte er nach all den scheußlichen Einzelheiten gefragt, nach denen die meisten sich nicht direkt zu fragen trauten . Warum haben Sie den Jungen getötet? Er hat mich vergewaltigt. Wie haben Sie ihn getötet? Ich kann mich nicht erinnern, aber angeblich habe ich ihm einen Schürhaken über den Schädel geschlagen. Warum haben Sie das Haus in Brand gesteckt? Ich weiß es nicht mehr.
Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde man eine alte Wunde aufkratzen. »Und?«
»Beide hatten viel Gutes über Sie zu berichten. Sie denken, dass Sie eine zweite Chance verdient haben.«
Eva hatte die Luft angehalten und atmete nun tief aus. Der Gefängnisdirektor war freundlich zu ihr gewesen und hatte ihren Drang zu lernen erkannt. Ihr Bewährungshelfer hatte ihr gebrauchte Bücher geschenkt.
Eva nickte, da sie fürchtete, ihre Stimme nicht unter Kontrolle zu haben. Vielleicht hatte sie ihn doch falsch verstanden.
»Hier am St. Margaret’s sind wir fortschrittlich. Wir sind keine große Hochschule, doch wir glauben, dass wir wertvolle Arbeit leisten. Und wir glauben an eine zweite Chance.« Er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. »Sie sind eine der stärksten Bewerberinnen, die wir in den letzten Jahren hatten.«
Hoffnung flackerte in ihr auf. Für einen Augenblick war die Zukunft hell und strahlend. »Heißt das auch, dass ich das Stipendium bekomme?«
Er seufzte. »Sie haben die Zusage nicht bekommen.«
Eva presste die Lippen zusammen und würgte Zorn und das Gefühl der Demütigung hinunter. »Sie haben doch eben gesagt, ich sei Ihre stärkste Bewerberin.«
»Das sind Sie auch, und wenn es nach mir ginge, würden Sie das Geld bekommen. Aber wir haben ein sehr konservatives Bewilligungskomitee. Einigen Leuten war angesichts Ihrer Vergangenheit unwohl.«
»Sie haben mich doch am College angenommen.«
»Ja. Sie sind begabt, zweifellos. Aber das Komitee hat entschieden, dass andere Studenten das Stipendium mehr verdient haben.«
Bitterkeit regte sich in ihr. »Mehr verdient.«
Dr. Givens lächelte breit und erinnerte sie auf seltsame Weise an einen Clown, den sie einmal im Zirkus gesehen hatte. Clowns galten als fröhlich und lustig, doch der, den sie gesehen hatte, hatte ihr eine Woche lang Albträume beschert. »Sie haben den Studienplatz. Es muss doch eine andere Möglichkeit der Finanzierung geben.«
»Ohne das Geld hätten Sie mich ebenso gut ablehnen können.«
»Wir können Ihre Zulassung bis zu drei Jahre aufrechterhalten.«
»Bei dem, was ich an Geld zurücklegen kann, dauert es zwanzig Jahre, bis ich genug habe.« Die Zimmerwände schienen sich auf einmal um sie zu schließen. Ihre Brust schnürte sich zusammen, und einen Augenblick lang war da wieder die bedrückende Enge des Gefängnisses.
Eva streckte die Hand aus und fragte sich, wie lange ihre Vergangenheit sie noch verfolgen würde. Wann vergaßen die Menschen endlich und ließen einen einfach leben? »Okay. Danke.«
Dr. Givens’ glatte Hand schloss sich um ihre. »Falls es irgendeine Rolle spielt, Sie hatten meine Stimme.«
»Sie sind nicht im Komitee.«
»Nein.«
»Ich verstehe. Danke.«
Eva entzog ihm ihre Hand und verließ das Büro. Als sie die Treppe hinunterging, spürte sie, wie ihr Zorn wuchs. So lange hatte sie nichts erträumen oder wünschen wollen. Und nun, da sie die Tür zur Zukunft aufgestoßen hatte, wurde sie ihr durch die Vergangenheit vor der Nase zugeschlagen.
Unten angekommen blieb
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