Das Flüstern der Nacht
der Straße. Ihr Herz setzte ein paar Schläge aus, aber der Reiter näherte sich ihr von Westen, und nach einer Weile erkannte sie ihn.
Cobie Fischer saß in stolzer Haltung auf Tannenzapfen, einer der gescheckten Stuten, die dem alten Vielfraß gehörten; seine zusammengeschusterte Rüstung und der aus einem Kochtopf gehämmerte Helm waren spiegelblank poliert. Speer und Schild hingen griffbereit am Sattel, obwohl er ihres Wissens nach diese Waffen noch kein einziges Mal benutzt hatte.
Cobie hielt sich für einen Kurier, aber er trotzte nicht der Nacht, wie die richtigen Kuriere es taten; er beförderte lediglich für Rusco Vielfraß, der den Gemischtwarenladen betrieb, Waren und Nachrichten von einem Ende des Sprengels zum anderen. Ein- oder zweimal hatte Cobie in ihrer Scheune übernachtet, als er unterwegs nach Sonnige Weide war, das weiter nördlich lag.
»Ay, Renna!«, rief Cobie und hob grüßend eine Hand. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn und richtete sich aus ihrer gebückten Stellung auf, während er näher kam.
Plötzlich schienen Cobies Augen aus dem Kopf hervorzuquellen und er wurde rot. Renna fiel ein, dass sie nur halb angezogen
war. Ihr Unterkleid endete über den Knien, war vorne tief ausgeschnitten und ließ viel von ihrem Busen sehen. Sie schmunzelte und amüsierte sich über seine Verlegenheit.
»Wieder mal auf dem Weg nach Sonnige Weide?«, fragte sie, ohne Anstalten zu machen, ihre Blöße zu bedecken.
Cobie schüttelte den Kopf. »Ich überbringe eine Nachricht für Lucik.«
»So spät am Tag noch?«, wunderte sie sich. »Was könnte denn so wichtig …« Sie fing seinen Blick auf, und sofort beschlich sie ein ungutes Gefühl. Als das letzte Mal jemand mit einer Botschaft für Lucik gekommen war, vor knapp zwei Jahren, teilte man ihm mit, dass sein Bruder Kenner sich beim Kosten des Biers aus den Braubottichen betrunken hatte und dann draußen hinter die Siegel getorkelt war. Als die Sonne am nächsten Morgen die Dämonen vertrieben hatte, war von ihm kaum etwas übrig geblieben, das man bestatten konnte.
»Seinen Leuten geht’s doch gut, oder?«, fragte sie voller Furcht vor der Antwort.
Cobie schüttelte den Kopf. Er beugte sich tief hinunter und senkte die Stimme, obwohl außer Renna niemand da war, der ihn hätte hören können. »Heute früh starb Luciks Dad«, vertraute er ihr an.
Renna schnappte nach Luft und schlug die Hände vor den Mund. Fernan Torfstecher war immer sehr freundlich zu ihr gewesen, wenn er seine Enkelkinder besuchen kam. Sie würde ihn vermissen. Und Lucik tat ihr leid.
»Renna!«, hörte sie ihren Vater blaffen. »Geh sofort rein und zieh dir was an, Mädchen! Das hier ist kein angieranisches Sündenhaus!« Mit seinem kostbaren Jagdmesser zeigte er auf die Tür. Die Klinge bestand aus Milneser Stahl, es hatte einen beinernen Griff, und er behielt es ständig in seiner Nähe.
Renna kannte diesen Ton; sie vergaß Cobie, der sie mit offenem Mund anglotzte, machte auf dem Absatz kehrt und flitzte zum
Haus. In der Tür blieb sie kurz stehen und sah, wie Harl Cobie begrüßte, der Tannenzapfen an einen Pfosten band.
Ihr Vater war faltig und grau, doch mit zunehmendem Alter schien er immer zäher zu werden; seine drahtigen Muskeln waren von der schweren Arbeit auf den Feldern hart, und seine Haut glich rauem Leder. Bevor Ilain fortging, hatte Harl nach einem Ehemann für Renna gesucht, doch danach verjagte er jeden Burschen, der auch nur in ihre Richtung schielte.
Cobie war allerdings größer als Harl und breiter gebaut, einer der kräftigsten Männer in Tibbets Bach. Rusco Vielfraß hatte ihn zu seinem Kurier erwählt, weil in ihm immer noch viel von dem Rüpel und Schläger steckte, der er einmal gewesen war, und ihm so schnell nichts Angst machte, vor allem, wenn er seine Rüstung trug. Renna konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, aber die grummelnde Stimme ihres Vaters klang respektvoll, als die beiden Männer zum Gruß die Handgelenke umklammerten.
»Was hat der Aufruhr zu bedeuten?«, fragte Beni, die am Herd stand und Gemüse in den Eintopf schnitt.
»Cobie Fischer ist von Stadtplatz hergeritten«, antwortete Renna.
»Hat er gesagt, warum?«, erkundigte sich Beni mit besorgter Miene. »Kuriere kommen nicht einfach so vorbei, um Hallo zu sagen.«
Renna schluckte nervös. »Dad hat mich ins Haus geschickt, ehe er etwas sagen konnte«, log sie. Dann eilte sie hinter den Vorhang, der ihre persönliche Ecke vom
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