Das Flüstern der Nacht
»Jash würde ohnehin mehr Bier trinken, als er überhaupt brauen könnte.«
»Das musst du gerade sagen!«, schnauzte Harl. »Nach allem, was man hört, hat der Vielfraß dich zu seinem Kurier gemacht, als du die vielen Bierkredits, die du ihm schuldig warst, nicht mehr bezahlen konntest. Vielleicht solltest du in der Brauerei malochen und deine Saufschulden abarbeiten.«
»Du hast aber verdammt viel Mut, alter Mann!« Cobie funkelte ihn empört an und erhob sich halb von seinem Stuhl. Harl stand mit ihm auf und richtete die Spitze seines langen Jagdmessers auf ihn.
»Wenn du weißt, was gut für dich ist, Junge, dann setzt du dich mit deinem Arsch wieder hin!«, knurrte er.
»Beim Horc, verdammt nochmal!«, bellte Lucik und ließ die Hände auf die Tischplatte knallen. Beide Männer sahen ihn erschrocken an, und Lucik erwiderte voller Zorn ihre Blicke. Er war genauso groß und kräftig wie Cobie, und vor Wut war sein Gesicht rot angelaufen. Langsam nahmen die Männer wieder Platz, Harl griff nach seinem Siegelpfosten und fing an, wild drauflos zu schnitzen.
»Es bleibt also dabei, dass du uns einfach so im Stich lässt«, grollte er. »Und was wird aus dem Hof?«
»Die Frühjahrsaussaat ist im Boden«, entgegnete Lucik. »Du und Renna müsstet es schaffen, bis zur Erntezeit das Unkraut zu hacken und die Siegelpfosten in Schuss zu halten. Zum Einbringen der Ernte kommen die Jungen und ich dann zurück, und wir bringen auch Fernie mit.«
»Und nächstes Jahr?«, bohrte Harl weiter.
Lucik zuckte die Achseln. »Was dann wird, weiß ich auch noch nicht. Beim Pflanzen können wir euch helfen, und vielleicht kann ich einen Jungen entbehren und ihn den ganzen Sommer lang hierlassen.«
»Ich dachte, wir wären eine Familie, Junge«, grollte Harl und spuckte auf den Boden. »Aber wie es scheint, hast du in deinem Herzen nie wirklich zu uns gehört.« Er stemmte sich vom Tisch zurück. »Mach, was du willst. Nimm mir meine Tochter und meine Enkelsöhne ruhig weg. Aber erwarte nicht, dass ich dir dafür auch noch auf den Rücken klopfe.«
»Harl«, begann Lucik, doch der alte Mann winkte nur ab, stapfte in seine Kammer und knallte die Tür hinter sich zu.
Beni legte eine Hand auf Luciks geballte Faust. »Er hat es nicht so gemeint.«
»Ach, Ben«, erwiderte er bekümmert und legte seine freie Hand auf ihre, »natürlich meint er jedes Wort, das er gesagt hat.«
»Komm mit!« Renna griff nach Cobies Arm und zog ihn von seinem Stuhl hoch. »Wir lassen die zwei jetzt allein und suchen dir ein paar Decken und einen sauberen Platz in der Scheune.« Cobie nickte und folgte ihr aus dem durch einen Vorhang abgetrennten Bereich hinaus.
»Benimmt sich dein Dad immer so?«, fragte er, als sie das Haus verließen.
»Er nimmt es besser auf, als ich erwartet hatte«, erklärte sie, schnappte sich einen Besen und fegte einen der leeren Verschläge aus. Mittlerweile war die Sonne untergegangen, und von draußen drangen schrille Schreie und Lichtblitze in die kleine Scheune, als die Horclinge gegen die Siegel anrannten. Die Tiere waren an diesen Lärm gewöhnt, trotzdem bewegten sie sich unruhig, denn instinktiv wussten sie, was geschehen würde, wenn die Siegel nachgaben.
»Lucik hat gerade seinen Dad verloren«, bemerkte Cobie. »Man sollte annehmen, dass Harl ein bisschen mehr Mitgefühl zeigt.«
Renna schüttelte den Kopf. »Nicht mein Dad. Er kümmert sich nur um seine eigenen Bedürfnisse.« Sie biss sich auf die Lippe und dachte daran, wie es in diesem Haus zugegangen war, bevor Lucik einzog.
Nachdem Cobie sicher in der Scheune untergebracht war, ging Renna ins Haus zurück. Lucik saß im Gemeinschaftsraum und machte die Jungen mit der neuen Situation vertraut. Leise huschte sie an ihnen vorbei und schlüpfte ins Benis Kammer; ihre Schwester war dabei, Kleidungsstücke zu falten und ihre wenigen Habseligkeiten zu packen.
»Nimm mich mit«, platzte Renna heraus.
»Was?«, fragte Beni überrascht.
»Ich will nicht mit ihm allein sein. Ich kann es einfach nicht.«
»Renna, was fällt dir ein …«, setzte Beni an, aber Renna packte sie kurzerhand bei den Schultern.
»Tu nicht so, als ob du nicht wüsstest, wovon ich rede!«, zischte sie. »Du weißt, wie er war, bevor Lucik hier auftauchte.«
Beni fauchte und riss sich von ihr los; dann schloss sie hastig die Tür. »Was weißt du schon davon?«, fragte sie in einem scharfen Flüsterton. »Du warst immer das Baby. Du musstest das nie aushalten …« Sie brach ab,
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