Das Flüstern der Nacht
Hände. »Sie ist ein hübsches Mädchen, robust wie ein Pferd, und ihre beiden älteren Schwestern haben stramme Buben zur Welt gebracht. Harl hätte eine gute Partie für sie aushandeln können, nachdem Arlen Strohballen sich auf und davon gemacht hatte. Er hätte noch einen Mann auf dem Hof gehabt, der ihm bei der Arbeit hätte helfen können; er hätte sogar selbst noch einmal heiraten können, zum Beispiel eine Witwe. Aber auch das kam für ihn nicht infrage. Er verjagte alle jungen Männer, die sich auf eurem Hof blickenließen, manchmal mit einer Mistgabel, bis eure Schwester aus dem besten Alter zum Gebären heraus war. Jemand Besseren als Cobie Fischer hätte sie gar nicht mehr kriegen können, und auf dem Hof wurde dringend ein starker Mann gebraucht, doch euer Dad wollte immer noch nichts davon wissen.«
Selia hob den Blick. »Ich frage mich, was einen Mann dazu bringen könnte, sich so zu verhalten, und ich denke mir meinen Teil. Aber ich habe keine Gewissheit. Ich habe euren Dad vielleicht ein-, zweimal im Jahr gesehen. Ihr wart euer Leben lang mit
ihm zusammen und kennt ihn besser als ich. Habt ihr etwas dazu zu sagen?«
Ilain und Beni sahen sie an, tauschten einen Blick und senkten die Köpfe. »Nein«, murmelten sie einstimmig.
»Keiner hat gesehen, dass ihr auch nur eine Träne um euren Dad vergossen hättet«, hakte sie nach. »Das ist nicht natürlich, wenn der eigene Vater ein Messer in den Rücken bekommen hat.« Ilain und Beni sahen nicht einmal hoch.
Selia betrachtete sie eine Weile, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus.
»Raus mit euch!«, schnauzte sie schließlich. »Verlasst mein Haus, bevor ich einen Stock nehme und euch damit verprügle! Möge der Schöpfer verhüten, dass ihr selbstsüchtigen kleinen Gören jemals einen Menschen braucht, der sich für euch einsetzt!«
Die beiden Schwestern huschten aus dem Haus; Selia legte den Kopf in die Hände und spürte ihr Alter wie nie zuvor.
Kaum hatte sich Selia am nächsten Morgen angezogen, da entdeckte sie schon Raddock Advokat in ihrem Hof; begleitet wurde er von Cobies Eltern, Garric und Nomi, und an die hundert Einwohnern von Fischweiher, fast das ganze Dorf war erschienen.
»Haben deine Worte so wenig Kraft, dass du deine vollständige Sippschaft um dich scharen musst, damit sie dich unterstützen, Raddock Advokat?«, fragte sie, als sie auf die Veranda hinaustrat.
Ein schockiertes Raunen fuhr durch die Menge, und wie ein Mann wandten sich die Leute Raddock zu; sie erwarteten von ihm ein Zeichen, wie sie sich verhalten sollten. Raddock öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Selia ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
»Ich habe nicht vor, den Stadtrat vor Pöbel einzuberufen!«, schrie sie mit einer Stimme, die erwachsene Männer zusammenzucken ließ. »Ihr habt aus gutem Grund einen Sprecher gewählt, und mit Ausnahme derjenigen, die hier sind, um Anklage zu erheben, werdet ihr alle schleunigst verschwinden. Falls ihr euch weigert, verschiebe ich das Treffen so lange, bis ihr euch getrollt habt, und wenn ihr bis zum Winter meine Tür belagert!«
Verwirrung machte sich unter den Leuten breit, und in dem lauten Gemurmel ging Raddocks Antwort unter. Nach einer Weile fing die Menge an, sich zu zerstreuen; manche traten den Rückweg nach Fischweiher an, doch die meisten marschierten die Straße hinunter zum Platz und dem Gemischtwarenladen, um dort auf die Verkündung des Urteils zu warten. Das gefiel Selia ganz und gar nicht, aber da die Leute ihr Grundstück verlassen hatten, konnte sie nicht mehr viel unternehmen.
Raddock sah sie mit vor Wut blitzenden Augen an, aber Selia setzte nur ein geziertes Lächeln auf und teilte Nomi eine Arbeit zu; sie sollte helfen, auf der Veranda den Tee zu servieren.
Als Nächste trudelte die Schmucke Coline ein, die den Tumult von ihrem Haus aus gehört hatte. Ihre Töchter, die gleichzeitig ihre Schülerinnen waren, übernahmen umgehend das Ausschenken des Tees, während die drei Ratsmitglieder auf die anderen warteten.
Der Rat umfasste zehn Sitze. Jeder der Weiler, die zusammen die Ortschaft Tibbets Bach bildeten, hielt einmal im Jahr eine Wahl ab, um zu bestimmen, wer sie im Rat vertreten sollte, dem auch der Fürsorger und die Kräutersammlerin angehörten. Zusätzlich wurde ein Stadtsprecher gewählt. Meistens übernahm Selia den Vorsitz im Rat, und in den Jahren, in denen jemand anders das Amt bekleidete, fungierte sie als Sprecherin für Stadtplatz.
Normalerweise gingen
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