Das Flüstern der Nacht
prächtigsten Gebäude in Thesa hinaufstieg, hätte ihn für einen der vielen Fürsorger gehalten, die hier ein und aus gingen.
Wie immer verspürte der Tätowierte Mann beim Betreten der Herzoglichen Bibliothek eine Mischung aus Hochgestimmtheit und Sorge. Hier hatten Euchor und seine Ahnen Kopien von fast jedem noch existierenden Buch aus der alten Welt gesammelt, das nicht verbrannt war, als die Flammendämonen während der Rückkehr die Bibliotheken in Brand steckten. Hier fanden sich wissenschaftliche Werke, Bände über Medizin, Magie, Geschichte, einfach über alles, was man sich vorstellen konnte. Die Herzöge von Miln hatten dieses Wissen angehäuft und weggeschlossen; ungeahnte Schätze der Gelehrsamkeit wurden vor der Menschheit, die davon hätte profitieren können, versteckt.
Als Bannzeichner-Geselle hatte der Tätowierte Mann die Regale und das Mobiliar der Bibliothek mit Schutzzeichen versehen und sich dadurch einen Eintrag in das Buch gesichert, in dem die Namen der Personen vermerkt waren, denen man unbefristet
freien Zugang zu den Archiven gewährte. Selbstredend hatte er nicht vor, seine Identität zu enthüllen, nicht einmal vor irgendeinem Bibliotheksgehilfen, doch dieses Mal galt sein Interesse nicht dem Bücherbestand. Sobald er sich im Inneren des Gebäudes befand, entzog er sich den Blicken der anderen Bibliotheksbesucher und betrat einen Seitengang.
Er wartete in Ronnells Studierzimmer, als der Oberste Bibliothekar zurückkam, das Grimoire mit Kampfsiegeln fest im Griff. Zuerst bemerkte Ronnel ihn nicht, sondern verriegelte nur hastig die Tür hinter sich. Er atmete tief durch, dann drehte er sich um und hielt das Buch auf Armeslänge von sich.
»Seltsam, dass Euchor dir das Buch mitgibt und nicht dem Meister der Bannzeichnergilde, der besser geeignet wäre, den Inhalt zu verstehen«, meinte der Tätowierte Mann.
Ronnell stieß einen hohen, spitzen Schrei aus und taumelte nach hinten. Seine Augen weiteten sich noch mehr, als er sah, wer vor ihm stand. Mit der Hand zeichnete er rasch ein Siegel in die Luft.
Als er merkte, dass der Tätowierte Mann nicht die Absicht hatte, ihn anzugreifen, drückte der Fürsorger das Kreuz durch und fasste sich wieder. »Ich bin sehr wohl imstande, die Geheimnisse dieses Buchs zu entschlüsseln. Bannzeichnen gehört zur Ausbildung eines Fürsorgeranwärters. Vielleicht ist die Welt für das, was in dem Grimoire steht, noch nicht bereit. Seine Gnaden hat befohlen, dass ich den Inhalt zuerst einer Prüfung unterziehe, bevor er der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird.«
»Ist das deine Aufgabe, Fürsorger? Zu entscheiden, wofür die Menschheit bereit ist und wofür nicht? Als hätten du oder Euchor das Recht, den Menschen die Chance zu nehmen, sich gegen die Horclinge zu wehren?«
Ronnell schnaubte durch die Nase. »Du tust ja gerade so, als hättest du die Siegel umsonst abgegeben, anstatt sie zu einem hohen Preis zu verscherbeln.«
Der Tätowierte Mann trat vor Ronnells Schreibtisch. Er war penibel sauber und aufgeräumt; die einzigen Gegenstände darauf waren eine Lampe, eine Schreibgarnitur aus poliertem Mahagoni und ein Messingständer mit einer Kopie des Kanons, die Ronnell persönlich gehörte. Gelassen nahm er das Buch in die Hand, und seine scharfen Ohren hörten, wie der Fürsorger ärgerlich die Luft einsog; doch Ronnell, dem es offenkundig nicht passte, dass sich jemand an seinem privaten Besitz vergriff, äußerte kein Wort des Tadels.
Das Buch mit dem Ledereinband war abgenutzt, die Tinte verblasst. Es handelte sich nicht um ein Schaustück, sondern vielmehr um einen Leitfaden, der häufig zurate gezogen wurde und über dessen Mysterien der Fürsorger oft nachgrübelte. Während Arlens Zeit in der Bibliothek hatte Ronnell ihn dazu verdonnert, regelmäßig in diesem Exemplar zu lesen, doch ihm fehlte das Vertrauen, dass Ronnell in dieses Buch setzte, denn es beruhte auf zwei Thesen, die er nicht akzeptieren konnte: dass es einen allmächtigen Schöpfer gab, und dass die Horclinge ein Teil Seines Plans waren, eine Strafe, die er der Menschheit wegen ihrer Sünden auferlegte.
Seiner Ansicht nach war in erster Linie dieses Buch für den elenden Zustand verantwortlich, in dem sich die Menschheit befand - die Leute duckten sich und waren schwach, wenn sie aufrecht stehen und Stärke zeigen sollten; das vorherrschende Gefühl war die Angst, niemals die Hoffnung. Trotzdem enthielt der Kanon viele Gedanken über Brüderlichkeit und die
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