Das Flüstern der Nacht
die Waffen zu begutachten.
Jardir drehte die lange Klinge, damit sie das Licht einfing, das in funkelnden Strömen über die komplizierten Siegel huschte, die in das Metall eingeritzt waren. Er erkannte auf den ersten Blick, dass die meisten der Siegel identisch waren mit denen, die seine eigenen
Leute zum Verstärken ihrer Waffen benutzten, Symbole vom Speer des Kaji, auf dem nahezu jedes existierende Kampfsiegel zu finden war.
Aber diese Siegel dienten nicht nur dazu, Horclinge zu töten, wie die lieblos eingeritzten Zeichen auf den Speeren der dal’Sharum . Ihnen haftete etwas Kunstvolles an, eine Ästhetik, wie sie nur noch auf dem Speer des Kaji selbst zu finden war. Hunderte von Symbolen flossen harmonisch ineinander und webten ein unglaublich starkes Netz, das wunderschön anzusehen und gleichzeitig für einen alagai vernichtend war.
»Exquisit«, staunte Jardir.
»Unbezahlbar«, schätzte Abban.
»Könnte dieser Tätowierte Mann die Symbole aus Anochs Sonne gestohlen haben?«, rätselte Ashan.
»Lächerlich!«, wehrte Jardir ab. »Seit tausend Jahren war dort niemand mehr, außer …«
Er sah seine Männer an, und in ihren Augen las er denselben Gedanken.
»Nein«, erklärte Jardir schließlich. »Nein, er ist tot.«
»Natürlich, es muss so sein«, bekräftigte Ashan nach einer kleinen Pause, und die anderen nickten.
Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf Leesha und ihren Vater, der nun eine Brille trug; für Jardirs Geschmack prüften die beiden den Speer ein bisschen zu genau. Sie hatten ihn lange genug in den Händen gehalten, um seine Pracht bewundern zu können, doch er sah keinen Grund, ihnen jetzt schon all seine Geheimnisse zu verraten.
»Diese Siegel sind kraftvoll«, lobte er und hielt Gared dessen Klinge entgegen, mit dem Griff voran. Bedeutungsvoll heftete er seinen Blick auf den Speer, den die Nordländer ihm mit offenkundigem Widerstreben zurückreichten. Der sehnsüchtige Ausdruck, der in Leeshas Augen erschien, als sie ihm den Speer wieder überließ, sprach Bände. Jardir wusste, dass sie danach gierte, in dessen Mysterien eingeweiht zu werden.
»Wo befindet sich dieser Tätowierte Mann?«, wollte Jardir von Gared wissen, als der Speer wieder sicher an seiner Schulter hing. »Ich würde ihn sehr gerne kennenlernen.«
»Er kommt und geht«, erklärte Leesha, bevor der Riese antworten konnte.
Jardir nickte ihr zu. »Hat er dir diesen wundersamen Umhang gegeben? Er gleicht dem Gewand des Kaji, wenn du mit ihm ungesehen an alagai vorbeispazieren kannst.«
Leeshas Wangen röteten sich, und Jardir merkte, dass er ihr gerade ein großes Kompliment gemacht haben musste.
»Diese Tarnumhänge sind meine eigene Schöpfung«, erwiderte sie. »Ich habe Siegel der Verwirrung und des Sehens abgeändert und sie mit Symbolen einer milden Abwehr vermischt, so dass jeder, der sie trägt, weder von kleinen noch von großen Horclingen entdeckt wird.«
»Unglaublich!«, staunte Jardir. »Everam muss dir Weisheiten ins Ohr flüstern, wenn du imstande bist, Siegel zu verändern, um dann noch ein Stück von solch göttlicher Schönheit und Kraft anzufertigen.«
Leesha blickte auf ihren Umhang hinunter und befingerte ihn zerstreut. Plötzlich stand sie auf, schnalzte einmal mit der Zunge und öffnete die silberne Siegelbrosche an ihrem Hals. »Nimm ihn«, sagte sie und hielt Jardir den Umhang entgegen.
»Bist du von Sinnen?!«, kreischte Elona und fiel ihr in den Arm, so wie Ashan vorher versucht hatte, Jardir zu behindern.
»Dieser Umhang entfaltet seine Wirkung nur bei Dämonen«, erläuterte sie sowohl ihrer Mutter als auch Jardir. »Nimm ihn, damit er dich morgen bei Sonnenaufgang daran erinnert, wer der wahre Feind ist.« Sie löste sich aus Elonas Griff und bot Jardir den Umhang an.
Jardir legte die Handflächen auf die Tischplatte und verneigte sich. »Das ist ein viel zu wertvolles Geschenk, und ich habe nichts, womit ich mich dafür bedanken könnte. Bei Everam, ich kann es nicht annehmen.«
»Dass du dir vergegenwärtigst, gegen wen wir alle gemeinsam kämpfen, ist der einzige Dank, den ich mir von dir wünsche«, betonte Leesha. Jardir verbeugte sich noch einmal und nahm ihr den magischen Umhang ab. Als er ihn näher betrachtete, weiteten sich seine Augen. Wenn die Siegel auf der Waffe dieses sogenannten Tätowierten Mannes mit einer kunstvollen Melodie vergleichbar waren, so übertraf Leeshas Tarnumhang diese Melodie gleich einer hundertfachen Harmonie. Vorsichtig faltete er den
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