Das Flüstern der Nacht
von seiner muskulösen Brust und drehte sich um, damit jeder die wulstigen Reihen von Narben sehen konnte, die von seiner rechten Schulter bis zur linken Hüfte verliefen. »Ein Baumdämon hat mich mit seinen Krallen erwischt. Einen kleineren Mann hätte er glatt mittendurch gerissen.«
Staunend beobachtete Rojer, wie sich die Präsentation von Narben gleich einer Welle durch den Raum fortsetzte. An beiden Seiten des Tisches standen Leute auf, pellten sich Kleidungsstücke vom Leib und stellten ihre Blessuren zur Schau, während sie in höchster Lautstärke ihre Geschichten preisgaben und darüber stritten, wessen Narben die größten waren. Seit dem letzten Jahr gab es kaum jemanden im Tal, der nicht mindestens einmal von einem Horcling verletzt worden war.
Aber es herrschte keine Atmosphäre der Niedergeschlagenheit. Man brüllte vor Lachen, wenn jemand eine heikle Situation schilderte, aus der er nur mit knapper Not entkommen war, und manchmal wurden diese Szenen in einer Pantomime nachgespielt; sogar die Krasianer klatschten sich amüsiert auf die Schenkel. Rojers Blick huschte zu Wonda, deren Gesicht schrecklich entstellt war, und zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, sah er sie lächeln.
Als der Tumult seinen Höhepunkt erreichte, sprang Jardir auf seine Sitzbank wie ein Meisterjongleur. »Die alagai sollen unsere Narben sehen und verzweifeln!«, schrie er und streifte sein Gewand ab.
Unter der olivfarbenen Haut zeichneten sich pralle Muskeln ab, doch das war nicht der Grund für die erstaunten Ausrufe, die jeder der Anwesenden von sich gab. Es waren die Siegel. Hunderte, vielleicht Tausende Symbole waren in seine Haut geschnitten, ähnlich wie bei dem Tätowierten Mann.
»Bei der Nacht, vielleicht ist er tatsächlich der Erlöser!«, hauchte Rojer.
25
Um jeden Preis
333 NR - Frühling
H umpele etwas schneller!«, rief Hasik Abban mit einem Lachen zu. »Sonst bleibst du allein in der Dunkelheit zurück!«
Abban zog vor Schmerzen eine Grimasse, und der Schweiß rann ihm in Strömen über das pausbackige Gesicht. Auf dem Rückweg zum krasianischen Lager legte Ahmann ein gnadenloses Tempo vor; er selbst marschierte mit Ashan voran und ließ den armen Abban in Begleitung von Hasik und Shanjat, die ihn seit seiner Kindheit gepiesackt hatten und ihn jetzt noch weitaus grausamer quälten.
Erst vor einer Woche hatte Hasik eine von Abbans Töchtern vergewaltigt, als er in ihren Pavillon kam, um eine Botschaft zu überbringen. Davor hatte er sich an einer seiner Ehefrauen vergangen. Im Kaji’sharaj machten Jurim und Shanjat es sich zur vornehmsten Pflicht, Abbans nie’Sharum -Söhne unter ihre Fittiche zu nehmen und ihnen eine solche Abscheu gegen ihren khaffit -Vater anzuerziehen, dass es Abban das Herz zerriss. Sämtliche Speere des Erlösers verhöhnten ihn, spuckten ihn an und schlugen ihn willkürlich, wenn der Shar’Dama Ka nicht dabei war. Sie alle kannten Ahmann von früher her und glühten vor Neid, weil der Erlöser dem verachteten khaffit Gehör schenkte und ihnen nicht. Abban wusste, dass sein Leben in dem Augenblick verwirkt war, in dem er bei Ahmann in Ungnade fiel.
Doch sobald sie den Bannbereich verließen, der durch das Großsiegel vom Tal des Erlösers erzeugt wurde, kroch Abban eine Gänsehaut über den Rücken; widerwillig gestand er sich ein, dass er nie zu stolz sein würde, um in der Nacht den Schutz der Sharum zu erbetteln, gleichgültig, was sie ihm antaten.
Das war das Schicksal eines khaffit .
»Ich begreife nicht, warum du diese Schwächlinge aus dem Norden behandelst als seien sie richtige Männer«, beklagte sich Ashan bei Ahmann, während sie Seite an Seite marschierten.
»Diese Leute sind stark«, widersprach Ahmann. »Sogar ihre Frauen haben alagai -Narben.«
»Ihre Frauen sind frech wie Huren«, versetzte Ashan, »und sollten von ihren Männern öfter gezüchtigt werden. Und ihre Anführerin ist die unverschämteste von allen! Ich kann es nicht fassen, dass sie dich gemaßregelt hat wie eine … eine …«
»Dama’ting?«, half Ahmann aus.
»Eher wie die Damajah «, ergänzte Ashan. »Aber diese Frau ist weder das eine noch das andere.«
In Ahmanns Gesicht zuckte ein Muskeln, ein kaum erkennbares Zeichen für seine Verärgerung, bei dem Abban jedoch schleunigst die Flucht ergriffen und Deckung gesucht hätte, sofern ein Versteck vorhanden war.
Doch Ahmann verlor nicht die Beherrschung. »Denk nach, Ashan. Sollte ich Krieger opfern in dem
Weitere Kostenlose Bücher