Das Flüstern der Nacht
»Hast du eine Ahnung, wie viel das wert ist, mein Freund?«
»Das ist unwichtig«, erwiderte Jardir. »Es gehört uns ja nicht.«
Abban maß ihn mit einem Blick als hätte er den Verstand verloren. »Wenn man sich etwas nimmt, dessen Besitzer tot ist, gilt das nicht als Diebstahl, Ahmann.«
»Einen Toten auszuplündern ist schlimmer als Stehlen«, berichtigte Jardir. »Es ist ein Frevel.«
»Ein Frevel wäre es, wenn man das Lebenswerk eines Kunsthandwerkers auf einen Abfallhaufen wirft«, hielt Abban dagegen. »Hier gibt es jede Menge anderes Zeug, mit dem wir Barrikaden errichten können.«
Jardir betrachtete die Keramiken. »Also gut«, ließ er sich schließlich erweichen. »Wir lassen die Sachen hier. Sie sollen die Geschichte von der Kunstfertigkeit des größten aller khaffit erzählen, damit Everam mit Wohlgefallen auf seine Meisterwerke herabsehen und ihm eine Wiedergeburt in einer höheren Kaste gewähren kann.«
»Warum muss man Everam etwas erzählen, wenn er doch allwissend ist?«, fragte Abban.
Jardir ballte die Faust, und Abban trat einen Schritt zurück. »Ich will nicht hören, dass jemand Everam lästert«, knurrte er. »Auch nicht du.«
In einer beschwichtigenden Geste hob Abban die Hände. »Es war nicht meine Absicht, Everam zu lästern. Ich meinte nur, dass Everam die Keramiken genau so gut im Palast eines Damaji sehen kann wie in dieser verlassenen Werkstatt.«
»Das mag ja sein«, gab Jardir zu, »aber Kaval hat gesagt, dass alles dem alagai’sharak geopfert werden soll, und das schließt diese Dinge mit ein.«
Abbans Blick huschte zu Jardirs immer noch fest geballter Faust, und er nickte. »Natürlich, mein Freund«, stimmte er zu. »Aber wenn wir wirklich diesem großartigen khaffit Ehre erweisen und ihn dem Himmel empfehlen wollen, lass uns seine wunderschönen Töpfe benutzen, um den ausgehobenen Dreck wegzuschleppen, der anfällt, wenn die dal’Sharum die Dämonengruben ausheben. Dadurch tragen die Keramiken auch zum alagai’sharak bei und zeigen Everam den großen Wert von Dravazis Arbeit.«
Jardir entspannte sich und ließ seine Hand sinken. Lächelnd nickte er Abban zu. »Das ist eine gute Idee.« Sie suchten die Stücke aus, die sich am besten zum Transportieren des Aushubs eigneten, und verfrachteten sie ins Lager. Die restlichen, akkurat aufeinandergestapelten Sachen ließen sie so zurück, wie sie sie vorgefunden hatten.
Jardir und die anderen Knaben stürzten sich auf ihre Pflichten, und zwei volle Tage und Nächte vergingen wie im Flug, während der Kampfplatz für den alagai’sharak allmählich Gestalt annahm. Jede Nacht zogen sie sich in ihre schützenden Zirkel zurück, beobachteten die Dämonen und legten sich einen Schlachtplan zurecht. Die terrassierten Ebenen des Dorfes verwandelten sich in
ein Labyrinth aus Müllbarrieren, hinter denen sich mit Siegeln versehene Schlupfwinkel verbargen, die den dal’Sharum als Hinterhalte dienten; von dort aus wollten sie hervorstürmen, um die alagai über die Seitenwälle in die Dämonengruben zu treiben oder sie so lange in Netze zu verheddern, bis sie sie in tragbare Bannzirkel einschließen konnten. Auf jeder Stufe legte man durch Siegel geschützte Arsenale an, in denen die nie’Sharum sich bereithalten sollten, um die Krieger mit neuen Speeren oder Netzen zu versorgen.
»Ihr bleibt so lange hinter den Siegeln, bis man euch ruft«, unterwies Kaval die Neulinge, »und wenn ihr sie überqueren müsst, dann beeilt euch und rennt so schnell ihr könnt von einem geschützten Bereich zum nächsten, bis ihr euer Ziel erreicht. Duckt euch tief hinter den Wall und nutzt jede nur erdenkliche Deckung aus.« Die Jungen mussten sich die Anlage des provisorischen Labyrinths einprägen und den Plan auswendig lernen, bis sie die sicheren Schlupfwinkel notfalls mit geschlossenen Augen finden konnten. Um besser sehen und kämpfen zu können, würden die Krieger Scheiterhaufen anzünden, die dann auch die Kälte der Wüstennacht vertrieben. Trotzdem gäbe es immer noch große, schattige Winkel, in denen sich die Dämonen, deren Augen vortrefflich an die Dunkelheit angepasst waren, eindeutig im Vorteil befänden.
Nicht mehr lange, und Jardir und Abban kauerten in einem Waffenlager auf der dritten Etage, während die Sonne unter den Horizont sank. Die Felswand ging nach Osten, deshalb konnten sie zusehen, wie ihr Schatten sich ausdehnte, das Flusstal einhüllte und dann wie ein gewaltiger schwarzer Tintenfleck die
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