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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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von Tibbets Bach war bis auf den letzten Mann, die letzte Frau und das letzte Kind vertreten. Die Leute füllten die Straßen und den größten Teil des Platzes, insgesamt mehr als tausend Seelen, nur durch hastig herbeigeschleppte und bemalte Siegelsteine geschützt.
    Aller Augen richteten sich auf sie, als sie heranritten; Jephs Familie ignorierte man völlig, jeder starrte nur auf den Fremden, dessen Gesicht von einer Kapuze verhüllt wurde, seinen gigantischen, mit Siegeln ausgerüsteten Hengst und das Mädchen, das hinter dem geheimnisvollen Mann auf dem Pferd saß. Die Menge teilte sich, als der Tätowierte Mann bis zur Mitte des Platzes ritt, wo er ein paarmal auf und ab galoppierte, damit alle sie sehen konnten. Dann zog er seine Kapuze herunter, und die Menge schnappte geschlossen nach Luft.
    »Ich kam von den Freien Städten hierher, um den guten Menschen von Tibbets Bach beizubringen, wie man Dämonen tötet!«, brüllte er. »Aber bis jetzt habe ich hier keine ›guten Menschen‹ gefunden. Gute Menschen verfüttern nicht hilflose Mädchen an die Horclinge! Gute Menschen weiden sich nicht an dem Schauspiel, wie jemand von Dämonen zerfleischt wird!« Während er sprach, trabte er weiter auf dem Platz herum und sah so vielen Menschen wie möglich in die Augen.
    »Sie ist kein hilfloses Mädchen, Kurier!«, bellte Raddock Advokat und drängte sich vor die Einwohner von Fischweiher. »Sie ist eine kaltblütige Mörderin, und der Rat hat beschlossen, sie zu bestrafen!«
    »Ay, das tat er«, pflichtete der Tätowierte Mann ihm mit lauter Stimme bei. »Und keiner hat gegen das Urteil Einspruch erhoben.«
    »Die Leute vertrauen ihren Sprechern«, gab Raddock zurück.
    »Ist das wahr?«, wandte sich der Tätowierte Mann an die Menge. »Vertraut ihr euren Sprechern?«

    Aus jeder Richtung erscholl ein Chor aus leidenschaftlich hervorgestoßenen »Ays«. Die Einwohner von Tibbets Bach waren stolz auf die Weiler, aus denen sie stammten, und auf die gemeinsamen Nachnamen.
    Der Tätowierte Mann nickte. »Dann muss ich wohl eure Sprecher auf die Probe stellen.« Er sprang vom Pferd, suchte aus den Köchern am Sattel zehn leichte Speere aus und rammte sie mit der Spitze in den Boden, wo sie wippend stecken blieben.
    »Jeder Mann und jede Frau aus dem Stadtrat, die heute Nacht gemeinsam mit mir kämpfen, oder, falls sie getötet werden, ihre Erben, erhalten von mir einen Speer mit Kampfsiegeln«, rief er und hielt eine der Waffen in die Höhe. »Dazu verrate ich ihnen die Geheimnisse der Kampfsiegel, damit sie ihre eigenen Waffen herstellen können.«
    Es herrschte betroffenes Schweigen, während sich die Blicke aller auf ihre jeweiligen Sprecher richteten.
    »Gibst du uns ein wenig Bedenkzeit?«, fragte Mack Weide. »Ich möchte nichts überstürzen.«
    »Selbstverständlich.« Der Tätowierte Mann schaute zum Himmel empor. »Ich schätze, ihr habt … zehn Minuten Zeit. Morgen um diese Stunde will ich wieder zu den Freien Städten unterwegs sein.«
    Selia die Unfruchtbare löste sich aus der Menge. »Du erwartest von uns, den Ältesten von Tibbets Bach, nur mit einem Speer bewaffnet in der Nacht zu stehen?«
    Der Tätowierte Mann betrachtete die Frau, die nach all den Jahren immer noch aufrecht stand und eine beeindruckende Figur abgab. Mehr als einmal hatte sie ihm das Hinterteil versohlt, und die Lektionen, die damit verbunden waren, hatte er gut gelernt. Der Gedanke, Selia die Unfruchtbare zu maßregeln, kam ihm merkwürdiger vor als einem Felsendämon zu trotzen, doch dieses Mal war sie es, der eine Lehre erteilt werden musste.
    »Das ist mehr, als ihr Renna Gerber zugestanden habt«, erwiderte er.

    »Nicht jeder im Rat hat für dieses Urteil gestimmt, Kurier«, erklärte sie.
    Der Tätowierte Mann zuckte die Achseln. »Und trotzdem habt ihr es zugelassen.«
    »Niemand steht über dem Gesetz!«, belehrte sie ihn. »Nachdem der Rat abgestimmt hatte, mussten wir uns der Entscheidung beugen, egal, was wir dabei empfunden haben. Die Stadt steht an erster Stelle.«
    Der Tätowierte Mann spuckte ihr vor die Füße. »Zum Horc mit eurem Gesetz, wenn es bedeutet, dass ihr euren Nächsten der Nacht opfern sollt! Wenn du der Stadt Vorrang gibst, dann komm hierher und zeige, dass du nicht nur austeilen, sondern auch einstecken kannst. Andernfalls nehme ich meine Speere wieder mit und verschwinde.«
    Selias Augen verengten sich zu Schlitzen, doch dann raffte sie die Röcke und marschierte mit festen Schritten auf den Platz

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