Das Flüstern der Nacht
schließlich.
Inevera seufzte. »Der Andrah wollte dich zum Tode verurteilen, weil du seinen Freund auf so unehrenhafte Weise getötet hast. Was ich tat, war notwendig, um dein Leben zu retten und dir Macht zu verleihen. Aber gräme dich nicht. Schon sehr bald kommt der Tag, an dem du seinen Thron besteigen wirst, und gleich darauf kannst du ihn mit eigener Hand entmannen.«
»Hat …«, setzte Jardir an, doch er war außerstande, mehr zu sprechen. Er schluckte hart, in dem Bemühen, seine Zunge zu befeuchten, doch selbst das gelang ihm nicht.
Inevera stand auf und brachte ihm Wasser; sie träufelte es auf seine Lippen und massierte seinen Hals, um ihm das Schlucken zu erleichtern. Mit ihrem seidenen Umschlagtuch trocknete sie seinen Mund ab, wobei sie eine Brust enthüllte. Er wunderte sich, wieso er sie nach allem, was vorgefallen war, überhaupt noch begehren konnte, aber er gierte nach ihr, das ließ sich nicht leugnen.
»Wusstest du, dass es dazu kommen würde, als du mich den Sharum Ka umbringen ließest?«, fragte er heiser. Wieder probierte er aus, ob er seine Arme und Beine bewegen konnte, doch sie versagten ihm immer noch den Dienst.
Ein weiterer Seufzer stahl sich über ihre Lippen. »Du hast erst zwanzig Winter gesehen, mein Geliebter, doch selbst du kannst dich noch an eine Zeit erinnern, als es in Krasia zehntausend dal’Sharum gab. Der älteste Damaji hat noch erleben dürfen, wie es zehnmal so viele waren, und aus den alten Schriften lässt sich entnehmen, dass die Anzahl der Krasianer vor der Rückkehr in die Millionen ging. Unser Volk stirbt aus, Ahmann, weil es keinen
Anführer hat. Aber die Krasianer brauchen mehr als einen starken Sharum Ka , mehr als einen mächtigen Andrah . Was sie brauchen, ist der Shar’Dama Ka , ehe Nie die Letzten von uns im Sand verstreut.«
Inevera hielt inne und wandte den Blick von ihm ab; es schien, als wähle sie ihre nächsten Worte mit großem Bedacht. »Damals, in jener ersten Nacht, fragte ich die Würfel nicht, ob ich dich jemals wiedersehen würde«, gab sie zu. »Ich stellte ihnen die Frage, ob es in Krasia einen Mann gäbe, der uns davor bewahren könnte, aufgerieben zu werden, und der imstande sei, uns zu unserer einstigen Größe zurückzuführen. Die Würfel zeigten mir einen Jungen, den ich in ein paar Jahren weinend im Labyrinth finden würde.«
»Bin ich dann der Erlöser?«, flüsterte er mit rauer Stimme und in einem ungläubigen Ton.
Inevera zuckte die Achseln. »Die Würfel lügen nie, aber verkünden auch keine absoluten Wahrheiten. Manchmal weisen sie in eine Zukunft, in der man dich für den Erlöser hält und die Menschen sich unter deiner Führung vereinen, dann wieder folgen sie einem anderen, oder sie bleiben zersplittert wie eh und je und scharen sich hinter niemandem.«
»Welchen Nutzen haben dann die Würfel?«, wunderte sich Jardir. »Wenn alles nach Gottes Willen geschieht, entscheidet das Schicksal.«
»Was du unter Schicksal verstehst, gibt es nicht«, erklärte Inevera. »Gewiss ist nur, dass der Sharak Ka , die Letzte Schlacht, stattfinden wird, und das schon bald. Wir können es uns nicht leisten, alles nur auf uns zukommen zu lassen, wir müssen versuchen, die Zukunft zu lenken. Ich beobachte dich, seit du als Knabe zum ersten Mal den Bido angelegt hast, mein Liebster. Du bist Krasias einzige Hoffnung, gerettet zu werden, und ich nutze alles aus, was dir einen Vorteil einbringt, selbst wenn ich mit meinem Körper dafür bezahlen muss, oder mit deiner Ehre.«
Jardir starrte sie stumm und mit weit aufgerissenen Augen an. Ihm fehlten die Worte. Inevera beugte sich vor und drückte einen Kuss auf seine Stirn. Ihre Lippen fühlten sich weich und kühl an. Dann stand sie auf und blickte traurig auf ihn hinab, während er immer noch hilflos und mit zuckenden Gliedmaßen am Boden lag.
»Alles, was ich tue, geschieht für dich und für den Sharak Ka «, flüsterte sie und verließ den Raum.
6
Der falsche Prophet
333 NR - Winter
D ie chin erweisen sich als die perfekten Sklaven«, meinte Jayan. »Selbst der Geringste unter ihnen hängt so sehr an seinem Leben, dass er niemals den Mut aufbringen würde, sich zu widersetzen. Das ist wahrhaftig ein großer Sieg, Vater. Dein Ruhm kennt keine Grenzen.«
Jardir schüttelte den Kopf. »Ein paar Sandkörner zu versetzen ist kein Zeichen für große Stärke, genauso wenig zeugt es von scharfen Augen, wenn man die Sonne sieht. Es ist nichts Glorreiches daran, die Schwachen
Weitere Kostenlose Bücher