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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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ihm deutlich an, dass er dies lediglich als irgendein primitives Ritual betrachtete, dem er sich unterziehen musste, damit man ihm Einlass ins Labyrinth gewährte.
    Ah, Sohn des Jeph, wenn es doch nur so einfach wäre.
    »Er darf kämpfen«, verkündete Inevera, fischte einen Tontiegel aus ihren Gewändern und bestrich die Wunde des chin mit einer übelriechenden Salbe, ehe sie ein sauberes Tuch darum wickelte.
    Jardir nickte. Mehr als ein Ja oder Nein hatte er ohnehin nicht erwartet. Er geleitete den chin aus dem Zimmer.
    »Khaffit!«, rief er Abban zu. »Sage dem Sohn des Jeph, er kann auf der Mauerkrone beginnen. Wenn er einen alagai mit dem Netz fängt, darf er einen Fuß ins Labyrinth setzen.«
    »Auf gar keinen Fall!«, protestierte Hasik.
    »Everam hat gesprochen, Hasik«, versetzte Jardir schroff, und der Krieger beruhigte sich.
    Abban übersetzte hastig, und der chin gab ein verächtliches Schnauben von sich, als wäre es eine Kleinigkeit, einen Winddämon mit einem Netz zu fangen. Jardir schmunzelte. Dieser Mann konnte ihm gefallen.
    »Geh in das Loch zurück, aus dem du hervorgekrochen bist«, riet er Abban. »Der Sohn des Jeph mag würdig sein, auf der
Mauerkrone zu stehen, aber du hast dieses Recht verwirkt. Wenn er sich mit uns verständigen will, muss er sich der Sprache des Speers bedienen.«
    Abban verbeugte sich und teilte dem Nordländer mit, was Jardir gesagt hatte. Der chin blickte zu Jardir hoch und nickte verstehend. Seine Miene wirkte grimmig, aber Jardir las die Vorfreude in seinen Augen. Er sah aus wie ein dal’Sharum kurz vor Einbruch der Nacht.
    Jardir wollte nun zusammen mit den anderen zu den Exerzierplätzen gehen, aber Inevera hielt ihn am Arm fest. Ashan und Hasik drehten sich um und zögerten.
    »Geht und seht zu, ob ihr dem chin ein paar unserer Handzeichen beibringen könnt«, befahl Jardir. »Ich komme gleich nach.«
    »Der chin wird dazu beitragen, dass du zum Shar’Dama Ka aufsteigst«, platzte Inevera heraus, sobald sie allein waren. »Umarme ihn wie einen Bruder, aber behalte ihn in Reichweite deines Speeres. Eines Tages wirst du ihn töten müssen, wenn man dich als den Erlöser anerkennen soll.«
    Jardir starrte in die unergründlichen Augen seiner Frau. Was verschweigst du mir?, fragte er sich.

    Der Fremde zeigte keine Spur von Angst oder Unsicherheit, als die Sonne an diesem Abend unterging. Hoch erhobenen Hauptes stand er auf der Mauer und spähte eifrig hinaus in die Wüste, anscheinend auf die ersten Anzeichen lauernd, die das Erscheinen der Dämonen ankündigten.
    Er entsprach in keiner Hinsicht dem Vorurteil, das Jardir aufgrund seines Unterrichts über die schwächlichen, halben Männer des Nordens gehegt hatte. Wie lange war es her, seit ein Krasianer in die Grünen Länder gereist und deren Bewohnern persönlich begegnet
war? Hundert Jahre? Zweihundert? Hatte seit der Rückkehr überhaupt jemand den Wüstenspeer verlassen?
    Hinter seinem Rücken kicherten zwei Krieger. Sie stammten vom Stamm der Mehnding, dem mächtigsten nach den Majah. Die Mehnding waren Experten auf dem Gebiet der Fernkampfwaffen. Sie bauten die Steinschleudern und Skorpione, brachen Steine, die als Geschosse dienten, und stellten die gigantischen Skorpionstachel her - wuchtige Speere, die auf einer Entfernung von tausend Fuß den Panzer eines Sanddämons durchbohren konnten. Obwohl sie nicht so geschickte Speerkämpfer waren wie andere Stämme, hatten sie immense Ehre angehäuft, denn die Mehnding töteten mehr alagai als die Kaji und die Majah zusammen.
    »Ich frage mich, wie lange es dauert, bis ein alagai ihn umbringt«, spottete einer der Mehnding-Krieger.
    »Noch wahrscheinlicher ist, dass er sich in dem Augenblick, in dem sie auftauchen, vor Angst bepisst und wegläuft«, lachte der andere.
    Der Fremde sah zu den beiden Männern hin. Seiner Miene nach zu urteilen wusste er, dass man sich über ihn lustig machte, aber er schenkte den Kriegern keine Beachtung, sondern widmete seine volle Aufmerksamkeit den sich in steter Bewegung befindlichen Sandflächen.
    Wenn er auf ein bestimmtes Ziel hinsteuert, lässt er jeden Schmerz und jede Kränkung von sich abgleiten, dachte Jardir und erinnerte sich an die Sticheleien, die er in seiner ersten Nacht im Labyrinth erdulden musste.
    Jardir begab sich zu den beiden Kriegern. »Die Sonne geht unter, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euren Speerbruder zu verhöhnen?«, fragte er laut. Jeder Mann auf der Mauer drehte sich zu ihnen

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