Das Flüstern der Stille
hat.
„Antonia, still. Irgendjemand ist da im Wald. Komm.“ Er zieht mich schweigend an die Grundstücksgrenze, gleich neben den Schuppen, wo wir uns hinter einem Hortensienbusch verstecken.
„Martin“, flüstere ich. „Was tust du hier?“
„Sch!“, macht er und deutet auf den Wald. Ich sehe nichts.
„Was ist da?“, flüstere ich.
„Ich glaube, es ist Griff“, sagt Martin. Mir fällt auf, wie leblos seine Stimme klingt.
„Gut“, erwidere ich in normaler Lautstärke. „Ich muss ihm ein paar Fragen stellen, wo er heute war.“ Ich trete einen Schritt vor, aber Martin reißt mich zurück.
„Nein“, beschwört er mich. „Bleib hier und hör mir zu.“ Ich bleibe stehen, und er lässt meinen Arm los.
„Hast du mit Ben darüber gesprochen, was da oben passiert ist?“, fragt Martin mich; er flüstert wieder, etwas heiser.
„Nein“, gebe ich zu. „Dazu hatten wir noch keine Gelegenheit. Ich bin einfach nur froh, dass es ihnen gut geht. Was ist mit Ben?“
„Er war da oben, als wir Petra gefunden haben. Er hat uns erzählt, was passiert ist, wer Petra und Calli das angetan hat. Es war Griff.“
„Das hat Ben gesagt?“, frage ich.
„Ja, das hat Ben gesagt. Er hat gesagt, Griff sei schon da gewesen, als er am Felsenkamm ankam. Dass Griff über Petra gebeugt stand und kurz davor war, auf Calli loszugehen.“ Martins Stimme zittert, als er den Namen seiner Tochter ausspricht.
Jetzt erst bemerke ich, dass er etwas fest in der Hand hält.
„Was ist das?“, frage ich und strecke meine Hand danach aus, die auf kaltes Metall stößt. „Mein Gott, ist das eine Pistole? Martin, was hast du vor?“
„Ich weiß es nicht“, sagt er leise. „Ich weiß es nicht. Ich dachte … ich dachte …“
„Du dachtest, du könntest herkommen und den Mann erschießen, von dem du denkst, dass er deine Tochter missbraucht hat? Ohne vorher mit ihm zu sprechen, ohne dass die Polizei ihn verhört hat? Martin, ich weiß, dass Griff Probleme hat, aber er hat Petra bestimmt nichts getan.“
„Woher weißt du das? Was ist mit den Verletzungen deines Sohnes? Dein Sohn war da oben, Antonia. Willst du etwa sagen, dass er ein Lügner ist? Wer hat es dann getan? War es Ben? War es dein Mann? Wer, Antonia? Wer war es?“, zischt Martin.
„Genau, Antonia, wer war es?“, fragt eine ölige, vertraut klingende Stimme im Plauderton. Mein Herz verkrampft sich in meiner Brust. Es ist Griff. Er riecht nach Schweiß, und sein Gesicht sieht ausgezehrt und müde aus. „Wem glaubst du? Ben oder mir?“
„Griff, ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß es nicht. Ben und Calli sind im Krankenhaus. Petra auch. Sie ist sehr schwer verletzt. Ich weiß nicht, was passiert ist.“
„Aber du denkst, ich hätte es tun können, oder? Du glaubst dem kleinen Bastard, aber deinem eigenen Ehemann glaubst du nicht …“ Griff, der Mann, der mir jedes Jahr am Todestag meiner Mutter kleine Liebesbriefe geschickt hat, tritt auf mich zu.
„Geh weg!“, schreit Martin.
„Was zum Teufel …!“, schreit Griff. „Du hast eine Waffe? Du hast eine verdammte Waffe? Was? Seid ihr zwei hierhergekommen, um mich zu erschießen? Jesus, Toni!“ Mit einer kraftvollen Bewegung schlägt Griff die Waffe aus Martins Hand in meine Richtung. Ich schreie, als sich mit lautem Knall ein Schuss löst, und bedecke mein Gesicht, als die Kugel in den Boden einschlägt und dicke Brocken Erde in die Luft wirbelt. Griff und Martin versuchen beide, nach der Waffe zu greifen, aber Griff ist schneller und erreicht sie als Erster. Mit einer Hand hebt er den Revolver auf und schlägt ihn mit einem widerlichen Geräusch gegen Martins Hinterkopf. Er fällt sofort auf den Boden und hält sich den Kopf.
„Nicht, Griff!“, schreie ich. „Bitte, nicht!“ Ich weine, als ich neben Martin auf die Knie falle.
„Er wollte mich erschießen“, sagt Griff benommen. „Ihr wart hier, um mich zu erschießen.“
„Nein, nein. Ich wusste nicht, dass er hier ist. Ich wusste es nicht“, schluchze ich. „Ich wollte nur einen Schlafanzug für Calli holen und ihren Affen!“ Ich zeige auf den Sockenaffen auf dem Boden; er lächelt uns an. Griff hält die Waffe mit zitternder Hand auf mich gerichtet, aber sein Blick geht zu dem Stofftier und dann zu Martins bewegungslosem Körper.
„Ich glaube dir nicht.“ Seine Hände zittern weiter, ob aus Nervosität oder weil er Entzugserscheinungen hat, weiß ich nicht.
„Bitte, lass uns darüber reden. Bitte“, flehe ich.
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