Das Flüstern der Stille
fernhalten.“
„Ich habe nicht die Absicht, dich von ihm fernzuhalten. Das kannst du allein viel besser. Wir besprechen die Einzelheiten später. Komm jetzt, verabschiede dich von ihm, wenn du willst.“
„Warum tust du das jetzt, Christine?“, frage ich hilflos.
„Ich tue es endlich , Loras. Ich bin es leid und müde, in ihrem Schatten zu stehen.“
„Du musst doch aber nicht gleich gehen. Wir können darüber reden. Wir finden eine Lösung, das tun wir doch immer“, sage ich nicht sehr überzeugend.
„Weißt du, wie das all die Jahre für mich war?“, fragt Christine mich. „In dieser Stadt zu leben? Mit eurer gemeinsamen Geschichte? Du kannst sie nicht loslassen, und ich kann ihr ebenfalls nicht entkommen. Ich bin fertig, Loras. Ich bin fertig damit.“
Sie wendet sich von mir ab und geht hinaus auf den Krankenhausparkplatz zu unserem Auto. Ich folge ihr, weiß, dass ich meinem Sohn einen Abschiedskuss geben muss.
Martin
Als ich aus meinem Auto krieche, das ich ein ganzes Stück die Straße hinunter geparkt habe, sehe ich einen Officer in einem Streifenwagen sitzen. Er ist ein Reservist, ein Mann aus meiner Kirche. Die Innenbeleuchtung des Wagens wirft Schatten auf sein Gesicht; er trinkt aus einer Kaffeetasse, liest. Ich schleiche mich unbemerkt an ihm vorbei und zur Rückseite des Clark-Hauses, um zu warten.
Ich richte mich hinter einem kleinen Gehölz ein, das mein Vater Ramschbäume genannt hätte, dünne, schrumpelige Dinger mit Stämmen nicht dicker als mein Handgelenk. Die Nacht ist immer noch warm, aber eine sanfte Brise aus dem Norden hat die Hitze erträglich gemacht. Es ist hier eigentlich recht bequem. Unter anderen Umständen würde ich Gefahr laufen, einfach wegzudösen, aber das Gewicht der Pistole in meinem Schoß ist eine ausreichende Erinnerung daran, wieso ich hier bin. Bei Tageslicht könnte man mich leicht entdecken, aber im Dunkel der Nacht verschmelze ich mit dem Garten der Clarks, zumindest hoffe ich das. Ich habe einen guten Blick auf Antonias und Griffs Autos, die beide auf der Zufahrt nahe der Hintertür parken.
Von meinem leicht erhöhten Punkt aus kann ich auch in ihre Küche sehen. Das Haus ist stockdunkel. Wenn der Reservist mich entdeckt, kann ich immer noch sagen, dass ich jemanden habe herumschleichen sehen und nur mal nachgucken wollte. Eine lahme Ausrede, ich weiß. Ich warte immer noch darauf, dass mein normaler Verstand wieder einsetzt, aber bisher ist es nicht passiert. Ich bin ein logisch denkender Mensch. Ich weiß, dass es keinen Sinn hat, dem Kidnapper und Schänder meiner Tochter mit einer Waffe aufzulauern. Ich warte darauf, dass mein Gewissen zurückkehrt und mir plötzlich auffällt, dass sich ein akademisch gebildeter, vernünftiger Mann nicht so verhält. Aber im Moment spielt es keine Rolle, dass ich der Kopf des ökonomischen Fachbereichs am St. Gilianus bin oder dass ich in den letzten siebenundfünfzig Jahren der festen Überzeugung war, dass die Todesstrafe grundsätzlich falsch ist. Wut summt wie ein Bienenschwarm durch meinen Körper, kratzt von innen an meiner Haut und will raus.
Also warte ich, und ich brauche nicht viel Geduld. Ich sehe, wie sich eine Silhouette aus dem Wald löst, sie ist breit, bewegt sich aber staksig und unkoordiniert. Sollte ich mich rühren, mich der Gestalt entgegenstellen? Oder sollte ich mich davonschleichen, zurück zum Haus meiner Schwiegermutter, die Waffe von Fieldas Vater wieder in ihre samtbeschlagene Kiste packen und hinter den staubigen, alten Schätzen verstecken? Ich überlege zu lange, um eine der Szenarien Wirklichkeit werden zu lassen, denn gerade, als ich eine Entscheidung treffen will – eine Entscheidung, die mein Leben ganz sicher für immer verändern würde –, taucht ein Auto auf und stellt sich direkt hinter die anderen beiden Wagen. Antonia Clark steigt aus. Der Schatten aus dem Wald hält inne und zieht sich dann hastig wieder zurück. Antonia geht um das Haus herum zur Vordertür. Ich höre das sanfte Murmeln eines Gesprächs, dann herrscht Stille. Es kommt mir vor, als würde ich dort eine Ewigkeit sitzen, dem Klopfen meines Herzens lauschen, beobachten, vom Wald zum Haus und zurückschauen, warten.
Ich erschrecke mich, als das Licht über der Hintertür angeht. Die Tür wird geöffnet, und ich sehe Antonia in den Garten treten, eine Tasche über der Schulter, in ihrer Hand ein grünes Kissen und ein Stofftier. Ich beobachte, wie sie in die Dunkelheit blinzelt und dann zu der Stelle
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