Das Flüstern der Stille
mit ihrem Ehering, wie ich es vor so vielen Jahren getan hatte, als ich klein war und wir gemeinsam in der Kirche gesessen hatten. Der Ring drehte sich locker um ihren Finger, sie hatte so viel Gewicht verloren. Ihre Hände sahen aus, als wenn sie zu einer viel älteren Frau gehörten, die Venen zeichneten sich dick und bläulich unter ihrer Haut ab.
„Louis ist ein netter junger Mann“, sagte sie.
„Ja, das ist er“, stimmte ich zu.
„Antonia, ich werde bei deiner Hochzeit nicht dabei sein …“, fing sie an.
„Mom, bitte sag das nicht“, bat ich. Meine Nase lief, und ich musste meiner Mutter die Hand entziehen, um sie abzuwischen. „Bitte sprich nicht so.“
„Ich werde auf deiner Hochzeit nicht dabei sein, also möchte ich dir jetzt noch ein paar Sachen darüber sagen, was es heißt, Frau und Mutter zu sein.“ Sie wartete geduldig, bis meine Schluchzer sich etwas legten. „Man sagt, Mutter zu sein ist der wichtigste Job auf der Welt. Und er ist auch wichtig. Aber ich glaube, es ist noch viel wichtiger, eine Ehefrau zu sein, eine gute Ehefrau.“
Ich musste sie skeptisch angeschaut haben, denn sie fing an, leise zu lachen, aber das Lachen tat ihr zu sehr weh.
„Ich meine damit nicht, dass du ein Fußabtreter sein sollst. Ganz und gar nicht. Ich meine, dir den Richtigen auszusuchen, um gemeinsam mit ihm durchs Leben zu gehen, ist die wichtigste Entscheidung, die du jemals treffen wirst. Du wirst Kinder haben und sie lieben, weil sie deine sind und einfach wundervoll. So wie du.“ Sie kräuselte die Nase und lächelte. „Aber wen du heiratest, ist deine Entscheidung. Der Mann, den du wählst, sollte dich glücklich machen, dich darin ermutigen, deine Träume zu verwirklichen, die großen und die kleinen.“
„Hat Dad das für dich getan?“, habe ich gefragt. Die Nacht brach herein, und im Dämmerlicht sah meine Mutter viel weicher, viel jünger aus und weniger so, als ob sie starb.
„Ja, das hat er. Ich hatte so einfache Träume, weißt du. Ich wollte einfach nur Ehefrau und Mutter sein. Mehr nicht, wirklich. Das darfst du nicht vergessen, Antonia. Am Ende hatte ich alles, was ich je gewollt habe. Meinen lieben, süßen Ehemann und meine lieben, süßen Kinder. Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit mit dir gehabt.“ Sie begann, leise zu weinen.
„Es ist okay, Mom, ist schon okay“, versuchte ich, sie zu beruhigen. „Ich werde mich daran erinnern, was du gesagt hast, ich verspreche es dir.“ Sie nickte und versuchte zu lächeln, aber der Schmerz zog ihre Mundwinkel nach unten. Ich nahm das Buch hoch, das neben ihrem Bett lag.
„Wie wär’s mit der kleinen Carson McCullers?“, fragte ich sie.
„Ja, das wäre schön“, antwortete sie.
Ich fing an zu lesen, und innerhalb weniger Minuten war meine Mutter eingeschlafen. Es war das erste Mal, dass ich mich zu ihr hinunterbeugte und sie küsste, während sie schlief. Ihre Lippen fühlten sich dünn und papieren an, aber warm. Unter dem Geruch von Krankheit und der puren Anstrengung zu leben, erhaschte ich einen Hauch von ihrem wirklichen Duft. Ich schloss meine Augen und zwang mich, mich zu erinnern. Aber mein Leben ging weiter, und ich habe es dann doch vergessen. Ich habe alles vergessen, was sie mir gesagt hat.
Eines Nachmittags saß ich im Geschichtsunterricht, als der Direktor an die Tür zum Klassenzimmer kam. Der Lehrer hörte auf, an der Tafel zu schreiben, und ging zum Direktor; sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten für einen Augenblick, und dann schauten sie beide in meine Richtung. Ich erinnere mich daran, wie mir die Brust vor Angst eng wurde und ich dachte, ich hatte doch noch nicht genug Zeit mit dir, Mom, ich hatte doch noch nicht genug Zeit mit dir.
Langsam erhob ich mich von meinem Stuhl, ließ die Bücher und alles auf dem Tisch liegen. Ich erinnere mich, dass Louis mir nachkam, meinen Ellbogen fasste und mich zu seinem Auto brachte und nach Hause fuhr. Er blieb sehr lange bei mir in dieser fürchterlichen ersten Nacht ohne meine Mutter. Wir redeten nicht – das mussten wir nicht –, und nun denke ich, dass unsere Freundschaft ähnlich war wie die von Calli und Petra.
Nach dem Tod meiner Mutter las ich weiter. Jeden Abend, bevor ich ins Bett ging, las ich mir laut ein paar Seiten aus einem Buch vor. Ich brauchte ewig, um einen Roman zu beenden, aber es schien mir nicht mehr richtig, leise zu lesen. Verrückt, ich weiß. Griff machte sich immer über mich lustig, wenn ich Ben, als er noch in meinem
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