Das Flüstern der Stille
Bauch war, Kinderbücher vorlas, die ich auf Flohmärkten erstanden hatte. Ich habe gelernt, es nicht mehr zu tun, wenn Griff in der Nähe war, aber ich liebte es, mit einer Hand meinen dicken Bauch zu halten und mit der anderen das Buch, aus dem ich meinem kleinen Fötus vorlas. Ich glaubte ganz fest, dass Ben mich hören konnte, sich dabei vor- und zurückwiegte, vielleicht sogar seinen kleinen Daumen in den Mund nahm. Nachdem ich meine beiden Kinder bekommen hatte, wurde es für werdende Mütter viel normaler, ihren Babys schon während der Schwangerschaft laut vorzulesen. Ich lese Calli immer noch jeden Abend vor, und manchmal erlaubt mir Ben, dass ich einen Teil des Buches lese, was er sich gerade ausgesucht hat. Wenn Griff nicht in der Stadt ist, krabble ich in mein Bett und lese mir selbst Gutenachtgeschichten vor, bis ich mit dem Buch in der Hand einschlafe.
Nachdem meine Mutter gestorben war, hat mich Louis ein paarmal gefragt, ob ich ihm vorlesen wollte, aber ich war zu gehemmt und tat es nicht. Irgendwann hat er es aufgegeben, nachdem ich ihm ungeduldig gesagt hatte, dass er endlich aufhören solle, mich zu fragen. Louis war immer für mich da, bis ich ihn nicht mehr ließ. Sogar als mein Vater starb. Griff und ich waren seit drei Jahren verheiratet; Louis hat mir eine Beileidskarte geschickt. Ich wusste, dass sie von ihm ist, noch bevor ich auf den Absender geschaut hatte. Seine kleine, ordentliche Schrift hatte sich seit der ersten Klasse in mein Gedächtnis gebrannt. Ich habe Griff die Karte nie gezeigt. Louis hatte mit Für immer dein, Louis unterschrieben, und ich hatte nicht die Kraft, das Griff zu erklären.
Manchmal träume ich von Louis. Von ihm und mir mit sechzehn. In meinen Träumen gehen wir immer Hand in Hand durch die Willow Creek Woods. Ich kann seine Handfläche an meiner fühlen, das leichte Streicheln seiner Finger. Sogar jetzt, wenn ich mich an die Träume zurückerinnere und ganz still dasitze, kann ich seine Berührung spüren. Wenn Louis mich in meinen Träumen küsst, bleibt der Geschmack seines Atems noch lange nach dem Aufwachen auf meiner Zunge. Im Hinterkopf sage ich mir, sogar während ich träume: Du bist verheiratet, Antonia. Was ist mit deinem Mann? Was ist mit Griff? Und in meinen Träumen zwinge ich mich dann, mich Louis zu entziehen, das Gefühl seiner Berührung fortzuwischen. Dann wache ich auf, manchmal liegt Griff neben mir, meistens ist er aber Tausende von Kilometern entfernt in Alaska, und meine Haut ist heiß und mein Kopf verwirrt.
Trotzdem vergehen manchmal Tage, gar Wochen, in denen ich nicht an Louis denke. Aber dann sehe ich seinen Streifenwagen in der Stadt oder seine hübsche Frau, die mit dem kleinen Sohn im Einkaufswagen durch den Supermarkt geht, und denke: Das könnte ich sein, das könnte mein Leben sein.
Angewidert von mir sperre ich diese Gedanken dann für einige Zeit fort. Griff war nicht immer so schlimm. Erst nach Bens Geburt hat er mit dem richtigen Trinken angefangen. Und das erste Mal geschlagen hat er mich, als Ben drei war. Ich weiß gar nicht mehr, was ich getan hatte, um ihn so wütend zu machen, aber er hat mich so verprügelt, dass ich einen Monat lang das Haus nicht ohne Sonnenbrille verlassen konnte. Danach hat er mich für mindestens ein Jahr nicht mehr geschlagen, aber er ist cleverer geworden. Er schlug mich niemals mehr dahin, wo man es hätte sehen können. Und trotzdem, er konnte so wunderbar sein. So lustig und süß. Und die Geschichten, die er von seinen Abenteuern an der Pipeline erzählte, brachten mich so sehr zum Lachen. Sogar Louis hat mich nicht so sehr zum Lachen gebracht. Wenn er nur aufhören würde zu trinken, dann könnte alles so anders sein. Nein, ich weiß, dass Griff mich liebt, und er ist mein Ehemann. Er war meine Wahl, wie heißt es doch … in guten wie in schlechten Zeiten.
Ich muss jetzt nach Ben suchen, mit oder ohne Louis. Ich bin es gewohnt, dass Griff nicht für mich da ist. Wenn ich mich auf etwas verlassen kann, dann darauf, dass ich mich auf Griff nicht verlassen kann. Ich beschließe, nicht eher aus dem Wald zu kommen, bis ich Ben gefunden habe. Ich bin mir nicht sicher, dass Calli auch im Wald ist, aber es ergäbe einen Sinn, wenn sie es wäre. Ich werde sie ebenfalls nach Hause bringen. Mrs. Norland versucht, mich davon abzuhalten, aber am Ende packt sie mir ein paar Flaschen Wasser in meinen Rucksack und umarmt mich. Als ich den Rucksack umschnalle und auf meinem Rücken zurechtrücke, sehe
Weitere Kostenlose Bücher