Das Flüstern der Stille
gut zu Calli. Das muss ich ihr lassen, es ist sicher nicht einfach, ein Mädchen zur besten Freundin zu haben, das nicht spricht. Aber es scheint sie nicht zu stören. Die beiden spielen zusammen wie alle Erstklässler, außer dass Petra das Reden allein übernimmt.
„Ben“, sagte sie, wenn sie zu Besuch war. „Calli und ich fragen uns, ob wir uns wohl deinen Baseballhandschuh und den Schläger ausleihen können?“ oder „Calli fühlt sich nicht gut, ist deine Mom irgendwo in der Nähe?“ Es ist eigentlich erstaunlich, wenn man darüber nachdenkt. Solange Petra dabei war, habe ich mir nie Sorgen um Calli gemacht.
Die beiden konnten zusammensitzen, die Köpfe zusammengesteckt, als führten sie gerade eine angeregte Unterhaltung. Manchmal habe ich überlegt, ob Calli nur nicht mit uns redet. Vielleicht sprechen sie und Petra die ganze Zeit ganz normal miteinander. Ich habe Petra mal gefragt. „Petra, hat Calli je mit dir gesprochen?“
„Wir reden die ganze Zeit“, hatte sie leichthin gesagt. „Aber nicht laut. Ich weiß, was sie denkt, und sie weiß, was ich denke.“
„Seltsam“, hatte ich gesagt.
„Ja, irgendwie schon“, hatte sie geantwortet.
„Aber auf gute Art seltsam“, hatte ich schnell hinzugefügt. Petra zu haben machte mein Leben einfacher, und ich wollte nicht, dass sie glaubte, verrückt zu sein, weil sie mit Calli befreundet war.
„Ja, gut seltsam“, hatte sie zugestimmt, und dann war sie wieder zu Calli zurückgehopst.
Für mich ist es ein Rätsel. Ich tätschle Petras Schulter erneut, und sie zuckt unter der Berührung zusammen. Leise fängt sie an zu weinen und zu stöhnen.
Ich sehe mich nach meinem Vater um und erschrecke. Er ist weg. Schnell stehe ich auf und schaue mich um, drehe mich im Kreis. Er ist nicht da. Er ist abgehauen. Ich fühle die Tränen in meinen wunden Augen brennen. Ich habe ihn gehen lassen . War Calli schon im Tal angekommen? Ich bin mir nicht sicher, wie viel Zeit vergangen ist. Aber sie ist schnell, schneller, als ich es gewesen wäre, aber hatte sie genügend Zeit, Hilfe zu holen, bevor Dad sie einholen konnte? Ich wusste es nicht. Vielleicht versteckt er sich nur hinter einem Baum, wartet, dass ich ihm den Rücken zudrehe, um dann sowohl Petra als auch mich fertigzumachen. Ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich denke, mein Vater könnte mich umbringen, aber er hat mir die Nase gebrochen, und Petra liegt hier halb tot. Im Moment fühle ich mich nicht mehr so groß und stark. Ich kann beinah hören, wie Dad über mich lacht. „Ohhh, der große Held Ben! Was ist nun mit ihm los? Sind das Tränen, Ben? Zu allem Übel ist mein Sohn nun auch noch eine Heulsuse.“
Dann kommen die Tränen raus und laufen mir übers Gesicht, und ich kann sie nicht aufhalten. Was, wenn Dad Calli erwischt? Ich habe sie schon wieder im Stich gelassen. Ich war es leid, der große Bruder zu sein, leid, für alles verantwortlich zu sein. Was soll ich machen? Bei Petra bleiben, bis Hilfe kommt, oder hinunterklettern und selbst Hilfe holen? Ich weiß es nicht. Ich bin zwölf Jahre alt und sollte solche Entscheidungen nicht treffen müssen. Was würde Mom tun? Ich denke darüber nach, während ich mich auf dem Boden neben Petra niederlasse und mich mit dem Rücken an einen großen Stein lehne. Nicht die Mom, die da war, wenn Dad zu Hause war, sondern die Mom, die da ist, wenn Dad nicht daheim ist. Die Mom, die eine Fledermaus mit dem Regenschirm erschlug, nachdem sie durch unseren Kamin ins Haus geflogen war, und sie dann in den Wald brachte und begrub. Die Mom, die mir, als ich acht Jahre alt war und vom Baum auf einen Stein gefallen war, ein Handtuch um meinen blutenden Kopf band und meine Hand hielt, während der Arzt die Wunde klammerte. Sie hat nicht geweint, und ihr ist auch nicht schlecht geworden. Sie saß einfach da, brachte mich dazu, mich auf sie zu konzentrieren, und sagte mir, dass alles gut werden würde, während der Arzt fünf Klammern in meinen Kopf tackerte. Was würde diese Mom an meiner Stelle tun? Ich grüble ein wenig darüber nach und entscheide schließlich, dass diese Mom bei Petra bleiben würde, bis Hilfe kommt. Das wäre das Richtige; ich könnte Petra beschützen, und das werde ich auch. Ich werde hierbleiben und hoffen, dass Calli inzwischen am Fuß des Felsens angekommen ist. Aber was wird sie tun, wenn sie erst mal da ist? Wie wird sie jemanden wissen lassen, dass wir hier sind? Ich muss ihr einfach vertrauen. Sie wird es ihnen schon sagen.
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