Das Flüstern der Stille
Er kommt mit langen, entschiedenen Schritten zu uns herüber. Ich habe diesen Gesichtsausdruck früher schon gesehen; ein gequälter, zielgerichteter Drang zu wissen, was passiert ist, flüchtig dahingemalt auf das Gesicht eines verzweifelten Elternteils; das letzte Mal auf dem Gesicht der Eltern der zehnjährigen Jenna McIntire.
Calli zieht an meinem Ärmel, und ich beuge mich hinunter, damit sie mir in die Augen schauen kann. Ich erwarte keine Worte. Calli hat seit Jahren nicht gesprochen. Vielleicht wird sie uns den Weg zu Petra zeigen und uns hinführen. Hoffentlich mit gutem Ende. Aber sie deutet nicht mit dem Finger oder führt mich an der Hand in den Wald. Sie spricht. Ein Wort. Als Antonia näher tritt, sehe ich sowohl Verwirrung als auch Erleichterung auf ihrem Gesicht. Martin weint, tiefe, untröstliche Schluchzer. Und ich sehe, was die beiden nicht sehen. Zusammengeknüllt in ihrer anderen Hand hält Calli Petras weiße Unterhose mit den gelben Blumen.
Martin
Ich drehe mich um, als ich ein Rascheln in den Bäumen höre. Ich sehe Petras kleine Freundin, Calli, den Weg herunterlaufen. Es ist das, was sie in ihrer Hand hält, das mich anzieht. Es glitzert baumelnd aus der Ferne. Nie hatte es auch nur einen Tag nicht an Petras Hals gehangen. Mein Magen zieht sich zusammen, alle Kraft schwindet aus meinen Beinen, und ich falle auf die Knie. Ich sehe in ihr Gesicht und erkenne grimmige Entschlossenheit, keine Angst, keinen Schrecken. Beinah spielt ein kleines Lächeln auf ihrem verschmutzten Gesicht. Ein Moment der Hoffnung. Ich werfe einen Blick hinter Calli zu den Bäumen, kann aber Petra nicht entdecken. Calli ist nun bei uns, und ich rapple mich auf, strecke die Hand aus, um die Kette meines Kindes entgegenzunehmen. Das Mädchen bleibt vor ihrer Mutter und dem Deputy Sheriff stehen, ihr Atem geht heftig. Dieses stumme kleine Wesen, das niemals spricht, und ich fühle, wie die Verzweiflung mich überrollt. Ich muss meine Petra finden, jetzt. Ich renne auf das Mädchen zu, bereit, sie an den knochigen Schultern zu schütteln. „Sag’s mir! Sag’s mir!“, werde ich schreien, während meine Nase fast ihre berührt.
Ein paar Schritte vor ihr bleibe ich stehen. Sie zupft am Ärmel des Deputy Sheriffs. Er beugt sich zu ihr, sein Ohr auf Höhe ihres Mundes. Ein Wort springt mich an, und ich weine.
Antonia
Im Wald, durch die Schwarzlinden, deren schwerer, süßer Geruch mich für immer an diesen Tag erinnern wird, blitzt dein pinkfarbenes Sommernachthemd auf, das du letzte Nacht getragen hast. Die Enge in meiner Brust löst sich, und ich zittere vor Erleichterung. Ich bemerke deine zerkratzten Beine kaum, die schmutzigen Knie oder die Kette in deiner Hand. Ich strecke die Arme aus, um dich festzuhalten, meine Wange an deinen verschwitzten Kopf zu drücken. Ich werde mir nie wieder wünschen, dass du sprechen mögest, dich nie mehr schweigend bitten, zu reden. Du bist hier. Aber du gehst an mir vorbei, ohne mich zu bemerken, bleibst an Louis’ Seite stehen, und ich denke, du siehst mich nicht einmal; es ist Louis’ Sheriff-Uniform, braves Mädchen, du tust genau das Richtige. Louis beugt sich zu dir hinunter, und ich kann den Blick nicht von deinem Gesicht wenden. Ich sehe, wie deine Lippen anfangen, sich in Position zu bringen, und ich weiß es, ich weiß es. Ich sehe, wie sich das Wort bildet, die Buchstaben sich festigen und ohne jede Mühe aus deinem Mund schlüpfen. Deine Stimme, weder unsicher noch rau von mangelndem Gebrauch, sondern klar und stark. Ein Wort, das erste in drei Jahren. Einen Augenblick später halte ich dich in meinen Armen, und ich weine, in Tränen gehüllte Gefühle tropfen zu Boden, hauptsächlich Dankbarkeit und Erleichterung, aber es mischen sich auch Tränen des Kummers hinein. Ich sehe, wie Petras Vater zusammenbricht. Das von dir gewählte Wort ergibt für mich keinen Sinn. Aber das macht nichts. Es ist mir egal. Du hast endlich gesprochen.
Calli
Calli lief auf Beinen, die sie nur noch als eine Schwere unterhalb ihrer Taille fühlte, aber der Drang, anzukommen, hielt sie in Bewegung. Für Ben. Für Ben, der immer für sie da war, der die Schläge und bösen Worte auffing, die eigentlich ihr gebührten. Calli verstärkte den Griff um die Gegenstände in ihrer Hand. Petras Kette und die Unterwäsche. Warum Petra sie nicht trug, verstand Calli nicht, aber sie wusste, dass sie in alldem hier sehr wichtig waren. Petra, so schwer verletzt, er hatte gesagt, sie könne sterben. O
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